Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
ihnen wurden die Köpfe kahl rasiert, sie bekamen im Winter keine Decken oder eine Heizung und ihre Nahrung bestand aus kalter Brühe. Man hat ihren Willen nachhaltig gebrochen.«
Ning hatte schon fünfzig Versionen dieser Geschichte gehört. Sie hatte ihre frühe Kindheit in einem Waisenhaus verbracht und vier Jahre an einer Elite-Sportschule. Die langweiligen Tage an der Grundschule achtzehn gingen ihr zwar auf die Nerven, aber sie war bei Weitem nicht der schlimmste Ort, an dem sie gewesen war.
»Ich weiß, was ich in meinem Leben nicht machen will, aber ich weiß nicht recht, was ich machen will«, erklärte sie nachdenklich.
Sie heftete ihren Blick auf Mr Shen, in der Hoffnung auf weise Worte, doch der schien das Gefühl zu haben, seiner Verantwortung Genüge getan zu haben, und konzentrierte sich nun auf das Nachmittagskonzert und darauf, Nudeln in sich hineinzuschaufeln.
6
Ning saß hinter einem Vorhang auf einem Hocker. Sie trug ihr Katzenkostüm, das aus einem schwarzen Trikot und Leggins bestand, und zu ihren nackten Füßen lag ein Hut mit spitzen Ohren. Ihre Stiefel und anderen Sachen lagen auf einem Haufen auf dem Boden, und um sie herum schwärmten kleinere Mädchen im gleichen Kostüm, deren Nerven vor der bevorstehenden Aufführung flatterten.
Ning nahm ihren Stiefel und schüttelte das Handy heraus, das sie zur Sicherheit dort hineingesteckt hatte. Es war zwar gegen die Regeln, während der Schulzeit zu telefonieren, aber sie wollte unbedingt ihren Stiefvater erreichen.
Dass er sie nicht zurückgerufen hatte, war nicht ungewöhnlich. Es kam oft vor, dass er die Provinz geschäftlich mit dem Flugzeug verlassen musste oder einen Tag in einem seiner Läden auf dem Land verbrachte, wo die Netzabdeckung manchmal sehr schlecht war. Aber sie hatte auch eine Nachricht bei seiner Sekretärin hinterlassen und die hatte bislang immer zurückgerufen.
Dandong war eine rasch wachsende Stadt. Manchmal konnten die Versorgungsbetriebe nicht mithalten, und Ning vermutete, dass es ein Problem im Telefonnetzwerk gab. Aber sie machte sich Sorgen, denn sie war aus dem Wohnheim hinausgeworfen worden und konnte nirgendwohin gehen, wenn die Show für den Elterntag zu Ende war.
Nings Stiefeltern wohnten zwanzig Kilometer vor der Stadt. So weit fuhr kein Bus. Sie hatte wohl kaum genug Geld für ein Taxi und außerdem fuhren die Taxifahrer nicht gerne so weit hinaus. Und selbst wenn sie nach Hause gelangen könnte, hatte sie keinen Schlüssel. Ihr Stiefvater würde immer noch arbeiten, die Haushälterin wäre bereits gegangen, und die Chancen, dass ihre Stiefmutter wach war, standen 1:1.
Daiyu kletterte über die Kleiderhaufen auf Ning zu. »Sie werden dir das Telefon wegnehmen, wenn sie dich sehen«, warnte sie.
»Habe ich etwa mit dir gesprochen?«, fuhr Ning sie an.
Daiyu schien es zu gefallen, sich als Katze zu verkleiden. Ihr schlanker Körper wirkte gut in einem Trikot, und sie schwang den ausgestopften Schwanz, der hinten angenäht war, herum. Sie trug jede Menge Eyeliner, Lipgloss, Glitzerspray und einen Schnurrbart aus Nylon.
»Mir ist es egal, ob du mit mir sprichst oder nicht«, gab Daiyu zurück, legte den Kopf in den Nacken und grinste bösartig. »Aber alle anderen sind mit dem Make-up fertig. Mrs Feng wartet nur noch auf dich. Du kannst jetzt also gehen und dich schminken lassen wie ein normaler Mensch oder eine deiner großen Szenen hinlegen. Mir ist es egal.«
Ning ließ das Telefon wieder in den Stiefel fallen und wäre beinahe über ihren Schwanz gestolpert, als sie aufstand. Ihr eigenes Kostüm war noch im Wohnheim, und anstatt sie gehen zu lassen, damit sie es holte, hatte ihre Lehrerin ihr ein Ersatzkostüm gegeben, das ihr viel zu klein war. Beine und Arme waren mindestens zehn Zentimeter zu kurz. Es zwickte unter den Armen, und Ning hatte das dumpfe Gefühl, dass es am Hintern bei zu viel Herumgehopse auf der Bühne reißen würde.
Man hatte das Klassenzimmer mit einem Vorhang in zwei Hälften geteilt, damit sich die Mädchen ungestört umziehen konnten, aber um geschminkt zu werden, musste man auf die andere Seite gehen. Als Ning den Vorhang beiseiteschob, brachen die Jungen aus ihrer Klasse in Gelächter aus.
»Da ist Catzilla!«, rief einer.
»Eine Laune der Natur!«, lachte ein anderer, und Qiang machte Bumm-bumm , als brächten Nings Schritte den Boden zum Erbeben.
Am schlimmsten war, dass, während die Mädchen sich wie die Idioten anziehen mussten, die Jungen ein Basketballspiel
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