Top Secret - Der Verdacht
war zu viel für Yvette. »Soweit wir wissen, hat das Boot gerade erst angelegt«, schrie sie. »Die bösen Jungs könnten in diesem Moment noch da draußen sein!«
»Schmuggler tragen Waffen, mein Zuckerstück. Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.«
Zuckerstück …
»Ich hab es satt mit dir!«, brüllte Yvette und schlug mit der Hand auf das Wagendach. »Ich sag dir was, George: Bleib ruhig auf deinem fetten Hintern sitzen, und warte auf Verstärkung. Ich gehe da raus und mache meinen Job!«
»Ruhig Blut, ruhig Blut.« Grinsend griff George nach dem Funkgerät. »Ich bin schon um einiges länger in diesem Geschäft als du …«
Yvette wusste, dass sie sich nur noch mehr aufregen würde, wenn sie blieb und sich einen weiteren Vortrag über den Vorteil von dreißig Jahren Diensterfahrung anhörte. Sie schaltete die Taschenlampe ein und lief schnurstracks die Promenade hinunter auf den stählernen Anleger zu.
Die rostige Konstruktion ragte fünfzig Meter weit ins Meer hinaus und war kaum drei Schritte breit. Nur an ihrem Kopfende verbreiterte sie sich so weit, dass ein Schiff anlegen konnte. Der Anleger war vor Jahrzehnten für Ausflugsboote gebaut worden, aber heutzutage nutzten ihn nur noch die Angler und ein paar mutige Schwimmer, die von dort ins Wasser sprangen.
Trotz des schrecklichen Wetters und der Regenböen, die über den Anleger fegten, funktionierten die Lampen, die längs der Metallkonstruktion angebracht waren, und Yvette konnte das Boot gut sehen. Es schien nur nachlässig an einem einzigen Punkt vertäut worden zu sein.
Die Crew war offenbar geflüchtet, ohne auch nur die Bordlichter auszumachen, und überließ es den Wellen, das Boot langsam zu zerschlagen. Auf einer Seite waren die Fenster geborsten, und das Heck ragte aus dem Wasser, als ob der Bug vollgelaufen wäre. Nur das Tau, mit dem es am Anleger festgemacht war, hielt es noch über Wasser.
Ein Teil von Yvette wollte der Crew entgegentreten, um ihre erste Verhaftung vorzunehmen, aber der vernünftigere Teil registrierte erleichtert, dass die bösen Jungs längst auf und davon waren.
Doch dann hörte sie einen Schrei.
Zuerst dachte sie, sie hätte es sich eingebildet, doch das Geräusch war in dem Augenblick erklungen, als eine besonders mächtige Welle über den Anleger spülte. Als das Wasser ablief, vernahm sie den gellenden Schrei erneut.
»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«
Eine Böe machte es ihr unmöglich, eine eventuelle Antwort zu hören, aber offenbar hatte ihr Ruf jemanden erreicht. Sie sah eine magere Gestalt, die die Arme um einen Laternenpfahl geschlungen hatte. Die Gestalt sah aus wie ein Kind, das kaum älter als zwölf Jahre sein konnte.
»Heilige Muttergottes«, stieß Yvette hervor und griff panisch nach dem Funkgerät. »George, bist du da? Hier steht ein kleines Mädchen am Ende des Piers und hält sich krampfhaft fest. Die Kleine ist zu verängstigt, um sich zu bewegen.«
»Ich komme!«, rief George. Ein Kind in Not konnte selbst er nicht ignorieren.
Nur konnte sich Yvette nicht vorstellen, dass ihr Partner ihr eine große Hilfe sein würde.
»Was ist mit der Verstärkung?«, fragte sie.
»Negativ«, erklärte George. »Zumindest in absehbarer Zeit. Da fliegen Ziegel von den Dächern, Bäume krachen auf die Straße, und der nächste Streifenwagen ist mit einem größeren Unfall auf der A 27 beschäftigt – der Sturm hat einen Sattelschlepper umgehauen. Es gab Schwerverletzte.«
»Verstanden«, sagte Yvette. »Dann muss ich das Kind selbst holen.«
»Bleib vernünftig, und warte, bis ich da bin!«, verlangte George. »Das ist ein Befehl!«
Doch trotz dreißig Jahren im Dienst Ihrer Majestät war George nie befördert worden und hatte keinerlei Befehlsgewalt über seine Partnerin.
Yvette war bis auf die Knochen nass. Ihr Körper hätte vor Kälte schlottern müssen, doch die Anspannung trieb ihr die Hitze ins Gesicht. Händeringend beobachtete sie die anstürmenden Wellen und versuchte, einen Augenblick abzupassen, in dem sie auf den Anleger hinausrennen konnte. Sie stellte sich vor, dass es so ähnlich wäre wie in den Videospielen, die sie mit ihrem kleinen Neffen spielte, und hoffte auf eine Art magisches Muster, eine Pause im Seegang, die es ihr erlauben würde, auf den Anleger hinauszurennen, das Kind zu schnappen und unversehrt zurückzukommen.
Aber die See machte keine Pause. Yvette konnte nur schnell loslaufen und sich am Geländer festhalten, wenn die Wellen versuchen sollten,
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