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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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fuhr sie den Hengst an. Ihr Herz pochte heftig. Wenn sich die Pferde losrissen und im Wald verschwanden, waren sie verloren. Die Vorderhufe des Schimmelhengsts krachten wieder auf den Boden. Er wich zurück, bis der Strick straff gespannt war. Seine Ohren lagen flach am Kopf, und er zeigte das Weiße in den Augen.
    »Was ist denn los mit dir?«, keuchte Ravenna. Als sie wieder Boden unter den Füßen spürte, erkannte sie plötzlich, was die Pferde so hysterisch machte: Der Schnee war mit frischen Pfotenabdrücken übersät. Jede Tatze war so groß wie eine gespreizte Männerhand. Die Krallen hatten sich tief in den Schnee gegraben.
    Wölfe. Riesige Wölfe – und zwar ein ganzes Rudel.
    Hastig umrundete Ravenna die Pferde, ließ die Hand über Beine und Flanken gleiten. Willows Fell war schweißnass. Von ihrem Hals stieg Dampf auf. Die kleine Stute der Filmcrew zitterte. Die Tiere zuckten nervös mit den Hufen, aber zum Glück entdeckte Ravenna keine Bisswunden.
    Sie mussten das Lager so schnell wie möglich abbrechen. Mit zitternden Händen holte sie ihren Sattel. Die Ausrüstung war auf einem umgestürzten Baumstamm aufgehäuft und sorgfältig mit den Satteldecken zugedeckt, um das Leder gegen Feuchtigkeit und Niederschlag zu schützen. Ihre Arbeit, kein Zweifel. Sie erinnerte sich nicht mehr, die Tiere abgesattelt und festgebunden zu haben. Offenbar funktioniert dein Verstand auch unter Stress, sagte sie zu sich. Falls du das hier gemacht hast.
    Sie löste einen dünnen Riemen vom Sattelring und band damit den Rock hoch. So schleifte der Saum nicht ständig durch den Dreck. Dann warf sie ihrer Stute die Unterlage auf den Rücken, zerrte den Sattel hoch und ließ den Gurt auf der anderen Seite des Tieres herabgleiten. Willow legte die Ohren an.
    Ravenna fädelte das Ende des Lederriemens durch den Ring und zurrte den Knoten fest. Mit einem Ruck überprüfte sie, ob der Sattel auch wirklich festsaß. Dann öffnete sie die Schnalle, die ihre Satteltasche verschloss, und schlug den Deckel zurück.
    Styroporflocken quollen heraus. Haufenweise Styroporflocken. Sie fielen auf den Boden, falscher Schnee neben echtem Eis. Als Ravenna die Hand tiefer in die Tasche wühlte, förderte sie noch mehr Schaumstoff zutage. Dann stießen ihre Finger auf die untere Naht. Bis auf den Kunstschnee war die Tasche leer.
    Mit einem Stöhnen ließ sie sich gegen Willows warme, zuckende Schulter sinken. Das Lager verschwamm vor ihren Augen. Doch diesmal war es keine Angst, die sie überkam – es war Wut.
    Beliar hatte ihre Satteltaschen mit Verpackungsmaterial ausstopfen lassen, damit sie prall und gut gefüllt aussahen. Sie hatten nichts bei sich, keine Salbe, kein Stück Leinen, um Lucians Hand zu verbinden. Weder ein Stück Brot noch Hafer für die Pferde.
    Ravenna zog den Ärmel über die Hand und wischte sich über die Augen. Die Filmcrew hatte ihre Satteltaschen zum Rastplatz mitgenommen und benutzte sie als Kopfkissen. Sicher enthielten sie jede Menge nützlicher Dinge. Einen schlimmen Augenblick lang sah sie sich mit einem Stein auf die Köpfe der beiden Kameraleute einschlagen.
    Dann riss sie sich zusammen.
    Eilig bereitete sie Ghost für den Aufbruch vor. Der kampferprobte Hengst war weit weniger umgänglich als Willow. Er trampelte hin und her, rempelte sie mit der Schulter an und schnappte nach ihr, während seine Augen und Ohren auf den dichten Wald gerichtet waren.
    »Benimm dich, Bursche«, drohte Ravenna leise. »Ich habe sie auch gesehen. Wir verschwinden von hier, keine Sorge. Dauert bloß noch eine Minute.«
    Mit fliegenden Fingern überprüfte sie, ob alle Gurte richtig saßen, klopfte Ghost dann auf die breite Backe und duckte sich unter dem Strick. Grimmig überlegte sie, ob sie die Tiere der Filmcrew einfach losbinden und ins Unterholz jagen sollte. Aber dann waren die beiden Hohlköpfe mitten in den ausgedehnten Wäldern des Mittelalters auf sich gestellt – diese Schuld wollte sie nicht auch noch auf ihr Gewissen laden.
    Sie kletterte wieder zu dem Felsen hinauf. »Du musst aufwachen«, flüsterte sie Lucian ins Ohr und rüttelte ihn sanft. »Wach auf! Wir brechen auf und lassen Don Quijote und Sancho Panza weiterschlafen.« So nannte sie ihre Begleiter insgeheim, denn der Kameramann war lang und hager, mit strubbeligen Haaren, während sein Assistent einen Bauch und eine Halbglatze hatte.
    »Ich schlafe nicht. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, murrte ihr Ritter, ohne sich zu bewegen. »Dabei hätte

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