Tore der Zeit: Roman (German Edition)
ich Ruhe wirklich nötig gehabt.«
»Zeig mir deine Hand«, verlangte Ravenna. Aber Lucian wollte nicht. Stattdessen zog er den verletzten Arm unter den Mantel. »Du musst aufstehen«, drängte sie wieder. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Wölfe schleichen um unseren Lagerplatz und machen die Pferde verrückt.«
Endlich hob Lucian den Kopf. »Wölfe?«
Ravenna nickte. Er zog den Arm unter den Körper und drückte sich hoch. Plötzlich schwankte er und wäre um ein Haar vom Felsen gestürzt. Ravenna griff hastig nach ihm, hielt ihn fest. Unter den Fingern spürte sie die Fieberwärme seiner Haut. Mit gesenktem Kopf saß er da und sammelte Kraft, um sich auf den Beinen zu halten.
Ihr Herz pochte, sie war sehr in Sorge. Lucian war viel schwerer verletzt, als sie angenommen hatte. Die Nacht im Freien, bei diesen winterlichen Temperaturen, hatte seinen Zustand noch verschlimmert. Sie hatten mehr gefroren als geschlafen, hatten aus dem eiskalten Bach getrunken, um den Hunger zu dämpfen. Nun war Lucian erschreckend blass, mit angestrengten Falten auf der Stirn und Bartstoppeln auf Wangen und Kinn. Doch ohne ihn, der sich in dieser Zeit und in der Wildnis auskannte, war sie verloren. Da halfen auch keine Hexenkräfte.
»Komm«, flüsterte sie besorgt. »Ich helfe dir beim Aufsteigen. Sobald du im Sattel sitzt, wird Ghost dich tragen. Wir werden schon einen Bauern finden, eine Einsiedelei, einen Köhler. Irgendjemanden, der uns helfen kann. Alles wird gut, du wirst sehen. Nur lass uns losreiten, bevor unsere Begleiter aufwachen.« Angstvoll behielt sie das Unterholz im Auge. Wieder scharrte Ghost angriffslustig mit dem Vorderhuf und schüttelte die lange Mähne. Wolfsgeruch lag in der Luft.
»Das Land rings um Carcassonne besteht aus einem verfluchten Wald, den mein Vater absichtlich verkommen lässt«, murmelte Lucian. »Hier gibt es weder Wege noch Bauern oder Köhler. Bären und Wölfe halten ungebetene Besucher fern. Ausgestoßene kommen in diesem Gebiet nicht weit, Kopfgeldjägern dagegen bietet diese Wildnis ein ausgezeichnetes Versteck. Das bedeutet, wir können die zwei Einfaltspinsel da drüben unmöglich alleinlassen. Es wäre ihr sicherer Tod.«
Ravenna raffte den Mantel am Kinn zusammen. »Das sind wir jetzt? Ausgestoßene? Vogelfrei im Mittelalter – das wollte ich doch schon immer mal sein«, witzelte sie, obwohl ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute war. Sie beobachtete, wie Lucian mit unsicheren Bewegungen vom Felsen hinunterglitt. Er stützte den Rücken gegen den Stein und schöpfte Atem, als ginge bereits das Aufstehen über seine Kräfte. Dann stieß er sich vom Felsen ab und ging zum Lagerplatz der Kameraleute.
»Nein«, flehte Ravenna. Sie lief ihm nach. »Ach bitte, tu das nicht! Lass sie doch einfach weiterschlafen. Ich will nicht die ganze Zeit über gefilmt werden und Statements abgeben, während wir um unser Leben kämpfen.«
»Das kann ich nicht machen«, widersprach Lucian sanft. »Constantin würde mir das nie verzeihen. Was soll ich meinem König sagen, wenn wir die beiden nicht mitnehmen? Dass ich zwei unerfahrene, wehrlose Fremde in den Bergen zurückgelassen habe, nur um mich selbst in Sicherheit zu bringen?«
»Du sollst ja auch mich in Sicherheit bringen«, maulte Ravenna. »Dagegen wird Constantin doch wohl nichts einzuwenden haben.«
Ihr Ritter schüttelte den Kopf. Mit der linken Hand befestigte er die Schwertscheide am Gurt und zog sie bis zur Schulter hinauf. Dort hakte er das Schwert fest. Für einen ahnungslosen Betrachter wirkte er nun wie ein bewaffneter Reiter: Der Griff ragte über seiner Schulter auf. Niemand würde ahnen, dass von der Klinge nur noch Bruchstücke übrig waren.
»Ganz gleich, wohin wir heute reiten«, sagte er. »Zuerst wecken wir diese beiden Schlafmützen und satteln ihre Pferde.«
Während sich Ravenna um das Geschirr der Tiere kümmerte, nahm Lucian sich die Filmleute vor. »Und das sind die Regeln«, sagte er und ließ sich auch nicht beirren, als ihn der Kameramann mit dem Aufnahmegerät auf der Schulter umkreiste. Mit zusammengekniffenem Auge suchte der Kerl die beste Perspektive, während sein Assistent das Mikrofon an einer langen Angel über Lucians Kopf baumeln ließ. Ständig musste er darauf achten, dass sich die farbigen Kabel zwischen den Geräten nicht verwickelten.
»Wenn ein Angriff erfolgt, bleibt ihr hinter mir und Ravenna«, befahl Lucian. »Niemand nähert sich meiner linken Seite. Das ist momentan der Schwertarm, und ich
Weitere Kostenlose Bücher