Tore der Zeit: Roman (German Edition)
kriegt er eine Blutvergiftung. Er könnte sterben – klar? Trotzdem behaupten diese beiden Witzbolde, wir müssten uns ganz alleine durchschlagen und nur mit den Sachen auskommen, die wir bei unserer Flucht aus Carcassonne mitgenommen haben. Da, schaut sie euch an!«
Sie fasste die Kamera mit beiden Händen und drehte das Gerät, bis der Bildausschnitt ihre Begleiter einfing. Das Duo war mit Isomatten, Schlafsäcken, einer Thermoskanne und einem Gaskocher ausgerüstet, während sie und Lucian auf dem nackten Felsen geschlafen hatten. Das war Absicht, hatte ihr der Kameramann erklärt. Er hatte sich auch nicht erweichen lassen, als sie ihn anschrie, dass Lucian Fieber hatte und Schmerzen litt. Er müsse sich an die Regieanweisungen halten, behauptete der Kameramann. Es war die einzige Auskunft, die er ihr erteilte.
Langsam schwenkte sie die Kamera über die Pferde, den Bachlauf und den Wald. Lucian lag noch immer auf dem bemoosten Felsen, einen Arm unter dem Kopf angewinkelt, die Augen geschlossen. Unter dem weißen Wollumhang hob sich seine Gestalt kaum von der Umgebung ab. Seine linke Hand lag auf der geborstenen Klinge – dort hatte sie die ganze Nacht über gelegen, begriff Ravenna.
Sie zuckte zusammen. Etwas huschte plötzlich durchs Bild, gleich hinter dem Felsen, auf dem Lucian schlief. Sie kam hinter der Kamera hervor, suchte mit den Augen den Wald ab – aber da war nichts. Trotzdem raste ihr Puls. Mit zitternden Händen spulte sie die Aufnahmen zurück, ließ sie noch einmal laufen.
Da. Kein Zweifel. Ein Schatten tauchte hinter Lucian auf, geduckt und zottig. Aber er hetzte so schnell vorbei, dass die Umrisse verschwammen.
Ein Wolf? Ganz sicher war sie sich nicht. Ein Wolf mitten am helllichten Tag. Und er traute sich bis an das Lager heran.
Sie stieß den Atem hervor und trat wieder vor die Kamera. »Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel. Es geht überhaupt nicht um eine Wette oder um ein Duell der Zauberer. Woher ich das weiß?«, fragte sie, noch immer flüsternd. »Beliar hat meine Schwester längst gefunden. Er wusste die ganze Zeit über, wo Yvonne ist. Er benutzt sie, um mich zu erpressen. Ja, ich gebe es zu: Statt des Geldes habe ich wieder das alchemistische Kästchen gewählt. Aber Lucian und ich wären sonst getrennt worden, und das will ich auf keinen Fall. Ich liebe ihn. Könnt ihr das verstehen? Kann das irgendjemand verstehen?«
Die bläuliche Linse glotzte sie an, ein Fischauge mitten im tropfenden Wald. Verzerrt spiegelte sie sich darin. Das weiße Kleid blendete in der Sonne, der Pelzumhang fiel bis zum Boden. An den Ärmeln und am Kragen schillerten Borten wie Eis. Es war ein lächerlicher Aufzug, vollkommen ungeeignet für einen Ritt durch die Berge. Sie hatte jedoch nichts anderes anzuziehen. Sie und Lucian waren mit dem nackten Leben aus Velascos Festung entkommen.
Sie ballte die Fäuste. »Vermutlich glaubt ihr mir nicht«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich denkt ihr, ich übertreibe. Aber ich werde euch beweisen, wer Monsieur Le Malin in Wirklichkeit ist. Er ist völlig skrupellos, setzt Menschenleben aufs Spiel. Vadym hat seinetwegen einen Arm verloren. Doch am Ende geht es nur darum, dass Beliar bekommt, was er will: noch mehr Macht.« Sie holte tief Luft. »Er missbraucht den magischen Strom, um Zeittunnel durch die Jahrtausende zu graben und Tote ins Leben zurückzuholen. Er ist ein Nekromant. Der Teufel. Ich erwarte nicht, dass ihr das begreift. Ich schwöre lediglich, dass ich nichts davon wusste, als ich mich für die Show beworben habe. Ich hatte keine Ahnung, welche Wendung dieses Spiel nimmt. Das schwöre ich beim Andenken an meine Großmutter, die selbst eine Hexe war.«
Nach diesem Appell tastete sie nach dem Schalter und knipste das Gerät aus. Das rote Licht erlosch. Sie war unsicher, welchen Erfolg ihr Aufruf haben würde. Wahrscheinlich ließ Beliar die ganze Szene am Lagerplatz herausschneiden. Aber sie war verzweifelt und wollte nichts unversucht lassen, um sich und Lucian zu retten.
Ohne Vorwarnung bäumten sich die Pferde auf. Voller Panik zerrten sie an den Seilen. Die Äste krachten. Ghost und Willow stießen gegeneinander, als sie versuchten, sich loszureißen.
»Ruhig! Ruhig !« Ravenna rannte zu den Tieren. Sie packte das Halfter des silberweißen Hengstes. Ghost stieg auf die Hinterhand, kugelte ihr beinah das Schultergelenk aus, als er sie eine Armlänge über den Boden hob. Heftig wehrte er sich gegen den Strick.
»Führ dich nicht so auf!«,
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