Tore der Zeit: Roman (German Edition)
ihr schlagartig klar.
»Hör zu, es tut mir leid«, stieß sie hervor. »Wirklich – ich wollte nicht, dass du in dieses Tor gerätst. Ich wusste nicht mal, wie gefährlich es war. Lucian hat noch versucht, dich zu warnen. Und jetzt lass ihn endlich aufstehen! Siehst du denn nicht, dass er völlig am Ende ist?«
Ihr Ritter fluchte lautlos und mit geschlossenen Augen. Wer auch immer ihn mit dem Schwert bedrohte – es war nicht Vadym. In der düsteren Stube lauerten ihnen noch mehr Männer auf, von denen sie nur Umrisse sah. Ziemlich viele Umrisse, stellte sie fest, und ihr Herz begann schneller zu klopfen. Da erschallten vor der Eingangstür plötzlich Stimmen und lautes Poltern. Das Kamerateam hatte die Pferde untergestellt und strebte nun mit dem Gepäck ins Warme.
»Stopp!«, schrie Ravenna. Sie wollte nicht riskieren, dass irgendjemand irgendetwas Unüberlegtes tat – nicht, solange ein Unbekannter eine blanke Schwertschneide unter Lucians Kinn presste. »Niemand bewegt sich! Claude, Thierry, warten Sie noch einen Augenblick! Und zwar draußen.«
Die Geräusche verstummten. Sie hatte das Gefühl, die Enttäuschung der beiden Dokumentarfilmer durch die Tür zu spüren.
»Claude und Thierry.« Vadym lachte leise und schüttelte den Kopf. Dann nahmen seine Messingaugen einen unerwartet sanften Ausdruck an. »Ich weiß, dass du nichts für den Unfall mit dem Tor kannst. Mir war klar, dass Beliar Unbefugten den Zugang zu den Portalen verwehrt. Aber ich dachte, er behandelt mich wie einen seiner Kandidaten. Schließlich spiele ich sein verfluchtes Spiel schon viel länger mit als du.«
»Das tut er«, murmelte Ravenna. »Und ob er das tut. Und es könnte noch viel schlimmer kommen, Vadym.«
Der Russe zuckte mit den Achseln. Dann blickte er Lucian an. »Obwohl es mir nicht passt, muss ich zugeben, dass mir dein Freund in den Katakomben das Leben rettete. Wenn er mich nicht zurückgezogen chätte, chätte mich dieses Tor weit mehr gekostet als nur den Arm. Wir Magier aus Sankt Petersburg sind Ehrenmänner. Wir vergessen nicht, wenn wir jemandem einen Gefallen schulden. Der Loge der mystischen Mathematiker anzugehören ist schließlich keine Kleinigkeit. So eine Zugehörigkeit verpflichtet.«
Er schnipste mit den Fingern, ohne die Stiefel vom Tisch zu nehmen. »Weg mit dem Schwert«, befahl er. »Die beiden laufen uns schon nicht weg.«
Die Klinge wurde angehoben. Schatten bewegten sich an der Tür und vor dem Kamin. Lucian nahm zwei Anläufe, um auf die Füße zu kommen. Dann gab er den Versuch auf und setzte sich einfach auf den Boden, im nassen Mantel, mit blutigem Verband und einer Rüstung, die vor Schlamm starrte.
»Vergiss es, Ravenna«, sagte er, als er ihren bangen Blick zur Uhr bemerkte. »Das schaffen wir sowieso nicht mehr.«
»Noch drei Minuten«, antwortete sie und bekam kaum noch Luft. »Wir müssen es schaffen. Schließlich geht es um dein Schwert.«
Lucian antwortete nicht. Er zog die Beine an den Körper, legte die Unterarme auf die Knie und ließ die Stirn darauf sinken.
Vadym schnippte ein zweites Mal mit den Fingern. Ringsum wurden Öllampen angezündet. Blinzelnd schaute Ravenna sich um. Der Gastraum war aus Balken und Brettern gezimmert und wurde durch freistehende Holzverstrebungen in mehrere Bereiche geteilt. Den gemütlichsten Teil bildete der große Kachelofen. Rings um den Tisch, um den Ofen und an den Fenstern entlang liefen Holzbänke.
Vadyms Freunde saßen vor den Fenstern – bis auf Cezlav, der hinter Lucian stand und sich auf einen großen Zweihänder stützte. Das Schwert reichte vom Boden bis fast zu seinem Brustbein. Außerdem befanden sich mehr als zwei Dutzend Ritter im Raum.
Bei ihrem Anblick setzte Ravennas Herz für einige Schläge aus. Es waren alles Fremde, Männer und Frauen in schweren Rüstungen aus Stahl, mit Lederkapuzen und Mänteln aus dunkelblauem Wollstoff. Ihre Bewaffnung bestand aus Langschwertern und Dolchen. Einige von ihnen trugen Bogen und Köcher über der Schulter. Ihr Anführer war ein älterer Adliger mit welligem, schulterlangem Haar und sorgfältig gestutztem Bart.
Ravenna ballte die Faust um die Uhr, aber sie wagte nicht mehr, auf die Zeiger zu sehen. Die Zeit rann ihr buchstäblich durch die Finger.
»Darf ich dir meine neuen Freunde vorstellen? Meine Verbündeten im Mittelalter?«, grinste Vadym. Er schwenkte die Hand über die Krieger, die sie stumm musterten. »Graf Ferran de Barca und seine Leute.«
Unter dem langen Rock begannen
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