Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Sekundenzeiger tickte.
Die Aussicht auf einen nächtlichen Ritt durch Nässe und Kälte behagte den beiden Filmemachern offensichtlich nicht besonders. Nach einer kurzen Beratung schwang Claude das Bein über die Hinterhand seines Falben und fummelte anschließend unter der Plane herum, die den Packsattel bedeckte.
»Da waren ein paar tolle Einstellungen dabei«, murrte er. »Sie in diesem abgefahrenen Kleid auf dem weißen Pferd. Lucian und die Wölfe. Sie haben echt keine Ahnung, was eine gute Story ausmacht.«
»Doch, habe ich«, erwiderte Ravenna kurz angebunden. »Nämlich ein Happyend. Und das lasse ich mir von Ihnen nicht kaputtmachen.«
Fordernd streckte sie die Hand aus, wollte endlich die Kontrolle über die Bilder erlangen, die sie und Lucian in ihrer schlimmsten Stunde zeigten. Widerwillig händigte Claude ihr die Speicherkarte aus.
Ravenna atmete auf. »Bringen Sie die Pferde zum Schuppen! Absatteln, trocken reiben, füttern – Sie wissen schon, wie das geht! Und wenn nicht, dann finden Sie es heraus. Wir sehen uns am Kaminfeuer«, rief sie, während sie schon auf das düstere Haus am See zulief. Sie hatte keine Ahnung, was Lucian so lange aufhielt. Ihnen blieben noch sechs Minuten.
In großen Sätzen erklomm sie die Treppenstufen vor dem Eingang, stieß die Tür auf und trat ins Haus. Der Flur war dunkel, ebenso die Stube. Ein durchdringender Geruch war wahrnehmbar, ein Gemisch aus Essensdüften, nasser Wolle, feuchtem Leder und Schweiß. Vielleicht waren die anderen Gäste schon zu Bett gegangen. Sie blinzelte, damit sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnten. Es fiel durch niedrige Fenster herein und glänzte auf den Kacheln des Ofens. Dann fiel ihr Blick auf Lucian.
Er kniete auf den Holzdielen, die Augen flehend auf sie gerichtet, den Mund zu einem zornigen Strich zusammengepresst. Im ersten Augenblick glaubte Ravenna, er wäre über irgendetwas gestolpert und käme wegen der verletzten Hand nicht wieder auf die Beine. Dann bemerkte sie den schimmernden Stahlstreifen, der unter sein Kinn führte und ihn zwang, den Kopf in einem unbequemen Winkel in den Nacken zu legen. Das Schwert drückte genau auf die Schlagader. So hatte er ausgeharrt, ohne einen Laut von sich zu geben. Bis sie ahnungslos zur Tür hereinstolperte.
»Was ist hier los?«, stieß sie hervor. »Verdammt, was soll das?«
Ein Streichholz flammte auf und näherte sich einem Docht. Im Lichthof der Flamme erschien ein gelblich angeleuchtetes Gesicht.
»Ravenna, Ravenna!«, ertönte eine tadelnde Stimme. »Dein Freund berichtet mir gerade, dass euch schon wieder Geldsorgen plagen. Ts – also wirklich! Scheint wirklich dringend notwendig zu sein, dass du dieses Chexenquiz gewinnst.«
Ihre Knie wollten nachgeben. Das Klimpern von Münzen in der Hosentasche, der rollende Akzent, der gelbliche, lauernde Blick – all das war ihr schrecklich vertraut.
»Vadym!«, stieß sie hervor. »Wie zum Teufel kommst du denn hierher?«
Bündnisse
Der russische Magier grinste. Er kippelte auf dem Stuhl, die Füße in schlammigen Stiefeln auf dem Tisch, zwischen einer Pfanne mit Speck, Eiern und gebratenen Bohnen und einem Brett mit einem großen Brotlaib. Die dicke Wachskerze beleuchtete nur einen Ausschnitt des Raums, aber Ravenna konnte erkennen, dass Vadym wie ein Aristokrat gekleidet war.
Er trug ein Wams und einen kurzen Umhang, der ihm über die Schulter fiel, beides aus braunem Samt. Eine Pfauenfeder wippte an seinem Barett, eine Silberschnalle verzierte seinen Gürtel. Das kann doch wohl nicht wahr sein, schoss es ihr durch den Kopf. Dieser Kerl bringt es sogar noch im Mittelalter fertig, wie ein Dandy auszusehen.
»Vadym, bitte. Lass Lucian aufstehen. Er ist verletzt.« Die Worte kamen ihr ohne darüber nachzudenken über die Lippen. Gleichzeitig schielte sie auf die Uhr, die sie ängstlich umklammerte. Noch viereinhalb Minuten. Und die Zeit lief.
»Ravenna! Nun schau nicht so bestürzt. Gefällt dir unsere kleine Willkommensparty etwa nicht?«, lachte der russische Magier.
»Ich glaube, ich habe langsam genug von deinen Partys«, murmelte sie.
»Willst du denn gar nicht wissen, wie wir in diese grässliche Schmiede geraten sind?«, fragte Vadym. »Es ist ja nicht so, dass Vasily und ich das Tor in den Katakomben nicht gefunden chätten. Wir kamen lediglich ein paar Minuten später dort an als ihr.«
Unwillkürlich fiel Ravennas Blick auf seine Schulter. Der Faltenwurf des Mantels verbarg den fehlenden Arm, wurde
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