Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
Vom Netzwerk:
Waschräumen. Sie stieß die Tür zur Damentoilette auf, trat ein und blieb einen Augenblick lang ratlos vor dem Spiegel stehen. Sie wollte nur alleine sein und ihre Gedanken ordnen.
    Vadym hatte ihretwegen auf den Sieg verzichtet. Lucian war für immer fort. Das Tor auf dem Montmago hatte sich geschlossen. Und Yvonne bekam in diesen Minuten ein Kind. Das alles war zu viel, um es zu begreifen.
    Sie ging zu einem Waschbecken, drehte den Hahn auf und stützte die Hände auf den Beckenrand. Eine volle Minute lang stand sie so da. Dann hob sie den Kopf. Der leere Gesichtsausdruck der Frau im Spiegel gehörte einer Fremden.
    »Du hattest alles, was man sich nur wünschen kann«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Ihre Stimme war so rau, dass sie sie kaum wiedererkannte. »Alles, hörst du? In diesem Augenblick könntest du mit Lucian gemütlich auf der Couch liegen und zuschauen, wie irgendein anderer Idiot das Quiz gewinnt. Vielleicht wärt ihr auch in der Menschenmenge am Eiffelturm und würdet feiern. Paris – diese Stadt wolltet ihr euch schon lange mal anschauen. Aber du hast es verbockt. Du hast es vollkommen verbockt. Darum heul jetzt ja nicht, hörst du?«
    Sie zögerte einen Augenblick. Dann spritzte sie ihrem Spiegelbild Wasser ins Gesicht. Während die Tropfen über das Glas liefen, griff sie an ihren Kragen. Die Minikamera hatte sich in ihren Haaren verheddert. Sie musste ein paarmal kräftig an den Strähnen reißen, ehe sich das Gerät löste. Lange, braune Haare hingen in der Halterung.
    Ravenna schob den Schalter in die Off-Position. Als es an der Tür klopfte, verbarg sie die Kamera in der hohlen Hand.
    »Ravenna?« Der Regieassistent streckte den Kopf zur Tür herein.
    »Hier ist für Mädchen«, sagte sie. Sie streifte das Haar über die Schulter, beugte sich zum Wasserhahn und trank in tiefen Zügen. Das Wasser schmeckte metallisch.
    »Wenn es darauf ankommt, bin ich ein Mädchen«, murmelte der Assistent und kam ganz herein. Er trug ein Bündel Kleider auf dem Arm. »Ich dachte, vor deinem letzten Auftritt möchtest du dich vielleicht umziehen.«
    Im Spiegel starrte sie ihn an. »Was denn für ein Auftritt? Ich dachte, die Show wäre vorbei.«
    »Das große Finale«, sagte der Assistent. Er wirkte verblüfft. »Willst du dir den Hauptgewinn denn nicht abholen?«
    Ravenna holte langsam Atem. »Dann ist Beliar also hier?«, fragte sie. »Ich meine, Monsieur Le Malin – hat er es geschafft?«
    Ratlos blickte sie der Assistent an. Er schien nicht zu wissen, wovon sie redete. »Monsieur Le Malin wartet draußen auf dich. Auf der Dachterrasse. Aber erst solltest du dich umziehen.«
    Vielsagend blickte er auf das mittelalterliche Kleid, das sie anhatte. Der Saum war eingerissen und schleifte auf dem Boden, grau vor Schmutz. Das Oberteil war durchgeschwitzt. Das Kleid hatte Grasflecken an den Stellen, wo Vadym sie rücksichtslos zu Boden gedrückt hatte.
    Ravenna zog ein paar Papiertaschentücher aus dem Spender und trocknete sich das Gesicht ab. Mit dem Handrücken betupfte sie ihr schmerzendes Kinn. Auf der Haut blieben Blutflecken zurück.
    Der Spielmacher hatte es also geschafft – er war mit ihr und Yvonne durch das Tor gekommen. Beliar war nicht im Strom verglüht, wie sie insgeheim gehofft hatte. Sie ballte das feuchte Papier zusammen, trat auf den Öffner des Mülleimers und warf die Handtücher hinein. Sie wünschte, es wäre anders gekommen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte der Assistent.
    Sie nickte und nahm ihm die sauberen Kleider ab. »Ich bin einfach nur fix und fertig. Wo ist Yvonne?«
    »Wird gerade rausgebracht.«
    Sie schnaufte vor Erleichterung. Der Regieassistent sprach in sein Walkie-Talkie. »Zwei Minuten noch«, sagte er dann und ging zur Tür. »Ich warte draußen auf dich. Beeil dich. Die Leute werden schon unruhig.«
    Das Rauschen schwoll an und brach wieder ab, als die Tür ins Schloss fiel. Das war eben gerade der Lärm von den Zuschauern gewesen, begriff Ravenna in diesem Moment. Die Zuschauer im modernen Paris.
    Sie löste die Schlaufen und zog das Kleid über den Kopf, froh, das beengende Mieder loszuwerden. Dann schlüpfte sie in die frischen Sachen. Zuletzt schob sie die Minikamera in die Hosentasche, zog die Schuhe an und warf einen letzten Blick in den Spiegel.
    Vielleicht ging Beliar davon aus, dass sie nicht den Mut hatte, ihm noch einmal unter die Augen zu treten. Aber diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen – nach allem, was geschehen war.
    Sie versuchte sich

Weitere Kostenlose Bücher