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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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blinzelte. »Was?«
    »Diese Figur da auf der Leinwand. Das bin ich nicht. Diese Frau sieht aus, als wüsste sie, was sie da tut. So war das aber nicht.«
    Wieder erklang wohlmeinendes Lachen. Sogar Beliar schmunzelte. »Du warst fantastisch«, sagte er.
    In ihren Ohren hörte sich sein Lob unglaublich zynisch an. Sie hatte gehandelt wie ein Tier, das in eine Falle geraten war. Blindlings und ohne nachzudenken. Der Zusammenschnitt blendete die Wirklichkeit einfach aus.
    »Wir fanden, so viel Mut und Einsatzbereitschaft muss belohnt werden«, fuhr Beliar fort. »Deshalb haben wir uns auf die Suche gemacht. Und wir haben es tatsächlich geschafft: Wir haben Yvonne aufgespürt. Deine Schwester, für die du das alles auf dich genommen hast.«
    O mein Gott, dachte Ravenna. Ihre Hände kribbelten. Sie erwartete einen Schwenk der Scheinwerfer, einen Punktstrahler, der eines der Gesichter im Publikum erfasste. Stattdessen veränderten sich die Bilder auf der Leuchtwand.
    In der Aufnahme saß Yvonne ganz vorn auf der Kante eines Diwans und schaute mit großen, ernsten Augen in die Kamera. Ein Kaminfeuer knisterte im Hintergrund. Gelb gestreifte Vorhänge verdeckten die Fenster.
    Plötzlich krampfte sich Ravennas Magen zusammen, und sie hätte fast das Wasser wieder ausgespien, dass sie vorhin getrunken hatte. »Wo wurde das aufgenommen?«, fragte sie. »Wo wurde das gedreht?«
    »Wir befinden uns im gelben Salon von Carcassonne«, sagte Beliar in der Aufnahme. Er ging zum Diwan und nahm neben ihrer Schwester Platz. »Yvonne. Möchten Sie uns etwas über sich und Ihre Schwester erzählen?«
    Langsam setzte Ravenna sich wieder, ohne die Augen von der Leuchttafel zu nehmen. In dem aufgezeichneten Interview wirkte Yvonne so … lebendig. Ihre Schwester wirkte genau so, wie sie sie von früher kannte – ein impulsives Mädchen, verspielt, leichtsinnig, aber immer liebenswert.
    Ihr kamen die Tränen, als Yvonne von ihrer Großmutter erzählte. Mit dem Handrücken wischte sie sich über das Gesicht. Zum Glück achtete in diesem Augenblick niemand auf sie. Alle starrten gebannt auf ihre Schwester.
    »Fay ce que voudras« , sagte Yvonne gerade und lächelte dabei in die Kamera. »Tu, was du willst. Das ist der Leitspruch der Hexen.«
    Ravenna fing an zu zittern. Yvonnes Gesicht flackerte auf der Leuchtwand, überdimensional und unangreifbar. Sie wirkte vollkommen unschuldig, genau wie die Blumen im Hintergrund. Weiße Lilien – jede Hexe würde dieses Zeichen verstehen.
    »Warum ich mich in das Schloss zurückgezogen habe und monatelang keinen Kontakt zu Ravenna aufnahm?«, wiederholte Yvonne soeben. Sie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Als sie wieder aufblickte, tanzte der Feuerschein in ihren Augen.
    »Meine Schwester hat mir etwas weggenommen. Etwas, das für mich von großer Bedeutung war: meinen Platz in der Runde der Sieben. Es war meine einzige Chance, eine von ihnen zu werden – eine echte Magierin. Eine Hexe, die es auch verdient, Hexe genannt zu werden. Aber Ravenna hat es nicht zugelassen.« Pause. »Sie hat es mir nicht gegönnt.«
    Yvonnes Blick von der Leuchtwand herab durchbohrte sie. Ihr Herz hatte Mühe, das stockende Blut durch ihre Adern zu pumpen.
    »Deshalb wollte ich ihr auch etwas wegnehmen«, fuhr Yvonne fort. »Etwas, das für sie von ebenso großer Bedeutung war. Ich wollte ihr genauso weh tun, damit sie versteht, was sie mir angetan hat. Ich wollte ihr denselben Schmerz zufügen, den sie mir bereitet hat.«
    In der Aufnahme schöpfte Yvonne tief Atem. »Deshalb habe ich Lucian verführt. Es war nicht einmal schwer. Er war sozusagen …« Sie lachte. Ihre Zungenspitze fuhr rasch über ihre Lippen, die anschließend röter glänzten. »Bereit. Lucian war mehr als bereit für dieses Abenteuer.«
    Ravenna schloss die Augen. Sie bekam nicht mehr mit, wie das Interview zu Ende ging. Ich werde ihn dir wegnehmen – obwohl Yvonne das mit keiner Silbe gesagt hatte, schwang diese Bosheit in ihr nach. Ich werde dir die Liebe deines Lebens wegnehmen.
    »Ravenna!«
    Ein Schrei erklang, irgendwo in der Menge. Sie legte die Finger über die Augenlider. Bildete sie sich diese Stimme nur ein? Sie glaubte, der Schädel würde ihr zerspringen.
    Wann war dieses Interview aufgezeichnet worden?, fragte sie sich. Als Lucian gerade von seinem Vater gefoltert worden war? Nein – das war unmöglich, denn an jenem Abend waren sie und Yvonne die ganze Zeit zusammen gewesen. Nun es gab nichts

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