Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Boden. Allmählich nahmen ihre betäubten Sinne Einzelheiten wahr: Künstliches Stroh klebte an ihren Händen. Heiße Lampen brannten auf ihrem Rücken.
Als sie schließlich den Kopf hob, blickte sie genau in eine Lichtleiste. Die Lampen waren so grell, dass sie nur verschwommene Umrisse ausmachen konnte. Ihre Augen begannen zu tränen.
Offenbar befand sie sich wieder im Pariser Studio. In der mittelalterlichen Plastikwelt, in der die erste Runde des WizzQuizz gedreht worden war. Die Tribüne war verlassen. Die Tür des sogenannten Kerkers stand weit offen und erlaubte einen Blick in den mit Technik vollgestopften Raum. Auf den leeren Rängen standen benutzte Getränkebecher. Über dem Geländer am Ausgang hing eine Jacke, die jemand vergessen hatte.
Schwankend kam Ravenna auf die Knie hoch. Sie konnte Beliar nirgends entdecken. Vor Erleichterung wurde ihr schwindlig. Dann bemerkte sie ihre Schwester. Yvonne lag auf der anderen Seite des Raums, halb unter die Tribüne gerutscht. Wimmernd krümmte sie sich zusammen.
»Yvonne! Yvonne! Um Himmels willen!« Ravenna rannte durch den Saal und zog ihre Schwester unter der Tribüne hervor. Yvonnes Zähne schlugen klappernd aufeinander. Schweiß tropfte von ihrer Stirn. Auf ihrer Haut war ein bläuliches Mosaikmuster zu erkennen. Wie zerbrochene Eierschalen.
»Wir brauchen einen Krankenwagen!« Ravennas Stimme überschlug sich. Sie blickte Richtung Ausgang. »Sanitäter! Ist hier irgendwo ein Sanitäter?«
Ein weiterer Krampf lief durch Yvonnes Körper. Sie bäumte sich auf. Das waren keine Wehen – es war ihre zurückkehrende Hexengabe. Verzweifelt kämpfte sie gegen Beliars Fluch an. Was das für das Ungeborene bedeutete … bei diesem Gedanken schauderte Ravenna. Sie packte Noranis Amulett, das an einer Schnur um Yvonnes Hals baumelte, und drückte ihr den Anhänger in die Hand.
»Hier, nimm das. Halte den Glücksbringer fest. Du darfst ihn auf keinen Fall loslassen!«
Niemand war in diesem Augenblick bei ihnen, keine Kameras, keine Hexen und kein mitfühlendes Publikum. Es gab nur sie und ihre Schwester. Yvonnes Augen waren blutunterlaufen, die Lippen rissig.
»Warte hier auf mich! Rühr dich nicht vom Fleck, Yvy. Ich hole Hilfe.«
»Ravenna.« Ein raues Flüstern, mehr nicht. Kraftlos fiel Yvonnes Hand von ihrem Arm.
Ravenna rappelte sich hoch und humpelte zur Tür. Panik packte sie. Am liebsten hätte sie sich wieder auf den Boden gesetzt, so sehr zitterten ihr die Knie.
»Hallo? Ist hier jemand?«
Der Flur war leer. Neonröhren spiegelten sich auf dem Fußboden.
»Wir brauchen einen Arzt!«
Mit der flachen Hand stützte Ravenna sich gegen die Wand. Ging die ersten tastenden Schritte auf dem Rückweg ins einundzwanzigste Jahrhundert. Der Getränkeautomat im Gang brummte. Als die Kühlung aussetzte, klirrten die Flaschen leise.
Es war absolut unwirklich, wieder an diesem Ort zu sein. Gerade eben noch hatte sie auf einem Berg gestanden, im Sonnenschein, umschwirrt von Insekten und dem Geruch von Pferdemist und zertrampeltem Gras. Jetzt war der Montmago unendlich weit entfernt.
Sie ging weiter den Flur entlang. Allmählich wurden ihre Schritte entschiedener, schneller. Dann fing sie an zu laufen.
»Hallo? Hört mich jemand?«, schrie sie. »Wir brauchen Hilfe!«
Das große Sendehaus glich einem Labyrinth. Gleich nach der Ankunft hatten sie und Lucian sich in dem Gebäude verlaufen. Ein beflissener Hausmeister hatte ihnen schließlich den Weg zum Aufnahmestudio gezeigt.
Von Ferne hörte sie ein Rauschen. Es wurde lauter, je länger sie in diese Richtung rannte. Plötzlich flog die Tür auf, und der Regieassistent eilte ihr entgegen.
»Ravenna! Da bist du ja! Herrgott, wo bleibst du denn so lange?«
»Meine Schwester ist im Studio zusammengebrochen«, fiel sie ihm ins Wort, außer Atem und erschrocken über sein plötzliches Auftauchen. »Wir brauchen einen Krankenwagen. Schnell!«
»Ich kümmere mich darum.« Ohne Umschweife zog der Assistent sein Handy hervor, tippte eine Nummer und begann zu telefonieren. Gleichzeitig sah er auf die Uhr. Noch fünf Minuten, gab er Ravenna zu verstehen.
Fünf Minuten – wofür?, fragte sie sich. Sie stützte den Rücken gegen die Wand, unendlich erleichtert, dass jemand anders die Verantwortung übernahm. Sie hatte keine Kraft mehr. Der lange Flur schien sich um sie zu drehen.
Das Regieassistent beendete das Gespräch und bedeutete ihr mitzukommen. Ravenna ließ den jungen Mann im Gang stehen und ging zu den
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