Tore der Zeit: Roman (German Edition)
bedeuten: Die Show war noch nicht vorbei.
Beliar lächelte. Vor ihm stand ein Koffer – nur noch ein einziger Koffer – aus Aluminium. Ravenna presste die Hände gegeneinander, während sie versuchte, sich den Wert der Summe vorzustellen, die der Koffer enthielt. So viel wie ein Einfamilienhaus. Oder das Lösegeld für einen Grafen. Ob es auch reichte, um Lucian aus der Vergangenheit freizukaufen?
»Ravenna.«
Beliar legte die Hände auf den Koffer. Der Applaus wurde leiser. Vielleicht drehte auch jemand den Ton ab. Dafür konnte man jetzt den Hubschrauber hören, der über dem Gebäude kreiste.
»Das ist unglaublich, nicht wahr?«, fragte der Schöpfer des WizzQuizz. »Du hast es tatsächlich geschafft. Nun sitzt du auf diesem Stuhl, auf dieser Terrasse, vor all diesen Menschen. Kein Kandidat vor dir hat es bis ins Finale geschafft. Was ist das für ein Gefühl?«
»Kalt.« Die Menge lachte, ein verhaltenes, aber wohlwollendes Lachen. »Mir ist kalt.«
Jemand brachte ihr eine Strickjacke. Ravenna schlüpfte hinein. Dann entdeckte sie das Medium. Die Kleine stand am Rand der Terrasse zwischen zwei Scheinwerfern und schien nur aus wilden Afrolocken, riesigen Brillengläsern und dem Witchboard zu bestehen. Das Mädchen drückte das Brett an ihre Brust, als bräuchte sie etwas, um sich festzuhalten.
»Es gibt da noch eine letzte Frage, die unsere Zuschauer interessiert, bevor die Show heute Abend endgültig zu Ende geht«, erklärte Beliar. Als er ihr Stirnrunzeln bemerkte, ergänzte er: »Keine Angst, Ravenna. Es ist keine Rätselfrage. Du hast alle Aufgaben mit Bravour gelöst. Es ist eher etwas Persönliches, das wir von dir erfahren möchten.« Er beugte sich vor. Ein lauernder Ausdruck erschien in seinen Augen. »Wie weit würdest du gehen?«
Sie zuckte zusammen. Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch. Dieselbe Frage hatte er ihr auf den Champs-Élysées gestellt, in der Nacht nach Vanessas Talkshow.
»Wie meinst du das?«, fragte sie zurück. Der Teufel lächelte. Am Ende werden wir uns wiedersehen, und dann wird abgerechnet. Offenbar war er fest entschlossen, seine Drohung wahrzumachen.
»Wovon redest du?«
Beliar hob eine Hand vom Geldkoffer und legte sie sanft auf ihren Arm. »Ravenna«, sagte er. »Wir haben deine Schwester gefunden.«
Zuerst begriff sie gar nicht, was er meinte. Erst durch das Stöhnen der Zuschauer wurde ihr bewusst, dass in der Gegenwart niemand wusste, dass Yvonne die ganze Zeit über da gewesen war. Sie war Beliars Assistentin gewesen, die Handlangerin des Moderators. Aber auf Handlanger achtete niemand. Vor dem Rennen auf dem Montmago hatte sie eine glitzernde Maske getragen. Und in Jodoks alter Schmiede hatte sie kein einziges Mal zu der Spiegelkugel aufgeblickt. Im Gegenteil – Yvonne war absichtlich im Schatten geblieben. Als wüsste sie Bescheid.
Ravennas Puls begann zu rasen. »Wo ist sie?«, stieß sie hervor.
Beliars Lächeln wurde breiter. »Keine Sorge, sie ist in Sicherheit. Du wirst sie gleich sehen. Wir haben ein Interview mit ihr aufgezeichnet, das wir unseren Zuschauern heute Abend zeigen möchten.«
»Wo ist Yvonne?« Ravenna rutschte von ihrem Hocker herunter. Sie wird gerade hinausgebracht – erst jetzt ging ihr der Doppelsinn hinter den Worten des Regieassistenten auf. Hinaus wie: hinaus auf die Terrasse. Nicht wie: in einen Krankenwagen. Sie beschattete die Augen und schaute sich unter den Umstehenden um. Aber die Gesichter der Leute auf der Terrasse lagen im Halbdunkel. Das harte Licht bildete einen Kreis um sie und um Beliar.
»Vorher schauen wir uns noch einmal die besten Szenen der Show an«, verkündete er. Auf seinen Wink hin dimmte man das Licht. Wider Willen wurde Ravennas Blick von der riesigen Leuchtwand angezogen.
Untermalt von dramatischer Musik zeigte man den Ritt in die Berge, ihre halsbrecherische Flucht aus Carcassonne. Auch vom Galopp über die Pilgerstraße gab es verwackelte Aufnahmen. Dann sah man sie in die Schmiede treten. Sie wirkte gehetzt und hatte Rußstreifen im Gesicht. Ihr Atem dampfte. Funken sprühten in Jodoks Esse auf.
Es war wie in einem Kinofilm. Nur gespenstischer.
Ravenna schluckte. Diese Bilder vermittelten nichts von der Angst, die sie ausgestanden hatte, nichts von der Kälte und dem Dreck. Das Publikum konnte nicht einmal ansatzweise die Anstrengung nachvollziehen, stundenlang im Sattel zu sitzen, verkrampft und mit wund gescheuerten Knien.
»Das bin ich nicht«, sagte sie.
Beliar drehte sich um. Er
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