Tore der Zeit: Roman (German Edition)
kannte. Sie wirkte unbeschwert, seit die Nachwirkungen von Beliars Bannfluch abgeklungen waren. Das Flackern war aus ihren Augen verschwunden, ihr Gesicht hatte wieder die gewohnte, frische Farbe. Nichts erinnerte mehr an die Fürstin des Feuers.
Sie ist wieder da, dachte Ravenna. Meine Schwester ist zurückgekehrt, und sie scheint glücklich. Wenn sie das kann – warum sollte ich es nicht auch versuchen?
Sie griff nach ihrem Becher und prostete Ramon zu.
»Ravenna, siehst du den Mann dort drüben?«, rief Marvin ihr in diesem Augenblick zu. »Den mit den vielen Käfigen? Sei so gut und wink ihm doch einmal zu.«
Verblüfft folgte sie der Aufforderung. Mit einem einzigen Ruck öffnete der Vogelfänger seine Käfige. Ein funkelnder, zwitschernder Schwarm stob in die Luft. Die Vögel drehten eine Runde durch den Hof und schwärmten dann über die Dächer der großen Burgstadt aus.
Das war das Zeichen. Die Musikanten griffen nach ihren Instrumenten, Tänzer und Gaukler strömten in den Innenhof, und die Menge brach in Jubel aus.
»Lang leben die Könige von Carcassonne!«, schrien die Menschen.
Das Fest anlässlich der Doppelkrönung im Königreich der Sieben hatte begonnen.
Epilog: Eine zweite Chance
Odilienberg im Elsass, Juni 1254
Vor dem Fenster rauschte der Regen nieder. Pfützen bildeten sich im Innenhof zwischen den großen Gebäuden. Die Blätter der Lindenbäume zitterten unter dem Gewicht der auftreffenden Tropfen. Ab und zu grollte Donner über den Bergen.
Yvonne ging in ihrer Kammer auf und ab und wiegte Lamar in den Armen. Leise summte sie ihm ins Ohr. Als sich sein Weinen beruhigte, legte sie die Lippen auf seine Locken und atmete seinen süßen, unschuldigen Duft.
»Schschsch … ruhig, mein Kleiner. Das ist nur ein Unwetter. Uns kann nichts geschehen. Wir sind hier in Sicherheit.«
Vom Fenster schritt sie an dem einfachen Bettgestell vorbei zur Tür und dann wieder zurück. Die Einrichtung der Kammer bestand aus einem Strohsack als Matratze, Bettwäsche aus weißem Leinen, einer Kerze, einem Tisch samt Stuhl und einer Truhe. Neben dem Bett stand eine Wiege auf zwei Kufen. Weil sie ein Kind hatte, hatten ihr die Sieben außerdem eine Kommode gewährt, auf der sie Lamar badete, wickelte und in der sie seine Sachen aufbewahrte. Viel mehr besaß sie nicht – eine Hexenschülerin im ersten Jahr.
Der Donner rumpelte wieder, diesmal in größerer Nähe. Durch das offene Fenster drang der Duft von Sommerregen und feuchter Erde herein. Yvonne genoss die Abkühlung nach den heißen, drückenden Nachmittagen der vergangenen Wochen. Sobald der Sturm losgebrochen war, hatten die Hexen ihre Arbeiten im Garten des Konvents eingestellt und sich in die Kammern und Lesesäle zurückgezogen. Ihre Gefährtinnen büffelten gerade für die Zwischenprüfung. Sie hingegen hatte beschlossen, den Test auf die leichte Schulter zu nehmen. Pflanzenkunde und das Ansetzen von Heilsalben – das war nichts, worin ihre Ausbilderin ihre Großmutter übertroffen hätte. Schließlich hatte Mémé ihren eigenen Garten gehabt, und Ravenna und sie waren zwischen den Beeten aufgewachsen.
Sie ging wieder zum Fenster. Der Innenhof, eben noch voll von buntem Leben, hatte sich in eine graue Ödnis verwandelt. Wolken zogen über den Bergrücken. Regen ging prasselnd auf den Dächern nieder. Blitze glänzten auf dem Laub.
Yvonne lauschte dem Platschen und Glucksen, dem gleichmäßigen Trommeln der Tropfen. Sie war tatsächlich hier – im Konvent der Sieben. Beide Könige hatten ihre Einwilligung gegeben. Norani hatte versprochen, während der gesamten Dauer der Ausbildung auf sie aufzupassen. An manchen Tagen konnte Yvonne ihr Glück noch gar nicht fassen. Ihr Traum ging endlich in Erfüllung. Die Sieben hatten ihr einen Platz im Konvent gewährt und bildeten sie zur Hexe aus. Zu einer echten Magierin.
Aveline war ihre Lehrmeisterin im ersten Jahr, eine strenge, manchmal ziemlich schwierige Person. Die jugendliche Hexe nahm keine Rücksicht darauf, dass sie neben ihren täglichen Pflichten auch für den kleinen Jungen zu sorgen hatte – für den Königssohn. Die Sorge um das Wohlergehen des winzigen, warmen Bündels beherrschte nun jede Minute ihres Lebens.
Aber sie beschwerte sich nicht. Sie würde sich nie wieder beschweren. Sie hatte eine zweite Chance bekommen. Wenn sie die Prüfung am Ende des ersten Lehrjahres bestanden hatte, würde sie die Entscheidung treffen, ob sie endgültig auf dem Hexenberg blieb. Bis
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