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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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Wanderin mit Stock und Sternenkrone.
    Fasziniert beobachtete Yvonne das magische Funkeln, das nur langsam verblasste. Der Strom, dachte sie. Heute zeigt er sich über dem Hexenberg.
    Als sie sich wieder ihrem Sohn zuwandte, schrie sie erschrocken auf. Das Wasser im Drachenkelch dampfte. Dichte Schwaden stiegen auf, und sie sah das Kind nicht mehr. Von Lamar kam kein Laut – war er längst unter Wasser geglitten und ertrunken?
    Panisch tauchte Yvonne die Hände in den Dunst. Und riss sie in der nächsten Sekunde mit einem Schmerzschrei zurück. Ihre Finger waren feuerrot. An den Stellen zwischen Daumen und Handfläche bildeten sich Blasen. Das Wasser war kochend heiß.
    Sie tastete nach dem Kübel mit Frischwasser, der neben der Kommode stand. Warum hatte sie nicht Acht gegeben? Warum hatte sie nicht gemerkt, dass sie das Bad viel zu heiß eingelassen hatte?
    Dann zögerte sie. War es wirklich so heiß gewesen?
    Als sie den Kopf hob, sah sie ihren Sohn, ein Schemen im aufsteigenden Dunst. Er saß aufrecht im Becken und schaute ernst, beinah nachdenklich auf sie herab. Winzige Blasen hafteten an Lamars Beinen und am Bauch und stiegen dann zur Oberfläche. Das Wasser schien kurz vor dem Siedepunkt.
    Doch die Hitze machte ihm nichts aus. Er schien keinen Schmerz zu spüren, ahnte nicht, dass sein Leben am seidenen Faden hing. Aus seinen Fäustchen quollen Seifenblasen.
    Yvonne packte den Kübel und leerte ihn über den Drachenkelch aus.
    Jetzt schrie Lamar. Sein Brüllen klang entrüstet und erschrocken – das Protestgeschrei eines wütenden Babys.
    Yvonne packte den Jungen unter den Armen, zog ihn aus dem Wasser und wickelte ihn in ein trockenes Tuch. Ihre Hände brannten wie Feuer. Was würde Lucian sagen, falls sie das Kind verbrüht hatte? Würde er ihr glauben, dass es aus Unachtsamkeit geschehen war? Sie hatte nur eine Sekunde nicht aufgepasst. Der Blitzschlag hatte sie abgelenkt. Oder würde der junge König sie verdächtigen, dass sie seinem Kind aus Bosheit schaden wollte – ihrem kleinen Jungen?
    »Lamar«, stöhnte sie, wiederholte seinen Namen immer wieder, während sie ihn untersuchte. Tropfen rannen ihr über das Gesicht. Wasserdampf, Tränen und Regen.
    Lamar schrie wie um sein Leben und krallte sich an ihren Händen fest, ein wimmerndes Bündel, das völlig außer sich war. Doch es gab keine Spur einer Verbrühung. Keine Brandblasen, nicht einmal gerötete Haut.
    Trotzdem pochte Yvonnes Herz wie wild.
    Schritte polterten auf der Treppe vor ihrer Kammer. Sie zuckte zusammen, als jemand klopfte.
    »Yvy? Alles in Ordnung? Wieso brüllt Lamar denn so?«
    Eine der jungen Hexen stand vor der Tür. Fianna, ein pummeliges, verwöhntes Mädchen aus Etrurien. Ihre Mitschülerin im Hexenkonvent. Sacht drückte Yvonne den Kopf des weinenden Babys an ihre Schulter, wiegte ihn hin und her.
    »Alles bestens. Er hat bloß Angst vor dem Gewitter.«
    In ihren Armen beruhigte Lamar sich allmählich. Aus dem Schreien wurde ein Schniefen, das in Schluckauf überging. Nur sein Kinn zitterte noch immer vor Empörung.
    »Sobald es aufhört zu regnen, versammeln wir uns in der Kräuterküche«, rief Fianna von draußen. »Aveline will uns zeigen, wie man ein Aphrodisiakum herstellt. Du kannst den Kleinen ja mitbringen.«
    Yvonne nickte. »Mache ich. Ich werde pünktlich sein.«
    Nicht nur Fianna – auch die anderen Mädchen waren ganz wild auf ihren Sohn. Wenn sie Lamar zu einer der Unterrichtsstunden mitbrachte, wanderte sein Korb durch die Reihen. Jede der jungen Hexen wollte ihn ansehen, seine Backen streicheln oder ein paar Minuten mit ihm spielen.
    Mit Lucians Sohn, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Mit dem Sohn des Königs.
    Als Yvonne sich an den Fensterrahmen lehnte, merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte. Der Schreck saß ihr in den Knochen. Sie hob Lamar hoch und drückte ihn in seinem weichen, feuchten Kokon an sich.
    »Drachensohn«, raunte sie ihm ins Ohr. »Du bist der Sohn des Drachen. Das hast du gerade bewiesen.«
    Sie blickte hinaus in den strömenden Regen. Sie hatte tatsächlich eine zweite Chance erhalten.
     

 
    Glossar
    Hexensprache
    Acencræft – Gabe, anderen Kreaturen willentlich Schmerzen zuzufügen
    Aeirin – Luft
    Ayneir! – Herbei!
    Avauntier! – Verschwinde!
    Baðor – Fledermaus
    Bærnanier! – Brenne!
    Bendicco! – Sei gesegnet!
    Binanier! – Verbinde!
    Blæstanier ! – Zerplatze! Berste!
    Blinnanier! – Erlisch!
    Breccanier! – Zerbrich!

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