Tore der Zeit: Roman (German Edition)
habe nur zurückgeholt, was mir gehört.«
»In der letzten Beratung haben sich deine Freunde einstimmig für dich ausgesprochen«, berichtete Morrigan. »Das Treffen fand statt, kurz nachdem Marvin die Sieben zusammengerufen und nach Carcassonne geführt hatte. Auf deinen Befehl hin, wie man hört. Es gab keine einzige Gegenstimme. Außerdem zeigt mir der Kelch dein Wappen.«
Überrascht spähte Ravenna in das Gefäß. Aus der Schale quoll noch immer weißer Rauch. Die verschlungenen Schwaden formten einen Halbmond und eine dreifache Spirale. Sie schüttelte den Kopf. Die Wappen der Freunde – sie waren beide im Strom zu sehen.
»Ich nehme diese Wahl aber nicht an«, widersprach Lucian. »Seht Euch die Menschen an! Schaut Ferran de Barca ins Gesicht. Niemand hier will einen König wie mich. Mein Vater hat in diesem Land zu viel Schaden angerichtet.«
Bei diesen Worten senkte sich absolute Stille über den Innenhof. Yvonne bewegte sich als Einzige. Sie wiegte den kleinen Jungen sacht auf den Knien hin und her und schaute zu ihnen her.
»Nun, das ist bedauerlich«, seufzte Morrigan. »Denn dein Freund hier teilte mir eben etwas Ähnliches mit. Auch Ramon will nicht König werden, weil er angeblich mit einem Bein im Reich des Todes steht. Seit er so schwer verletzt wurde, sei er nur noch halb in dieser Welt, behauptet er. Deshalb lehnt auch er die Krone des Hexenreichs ab.«
»Ja«, erwiderte Lucian leise. »Das haben wir so abgesprochen.«
Norani und Ravenna schnappten gleichzeitig nach Luft. Raunen erhob sich im Innenhof. Die Menschen an der Mauer reckten die Hälse. Sogar die Hexenritter schienen von dieser Mitteilung überrascht.
»Was soll denn das?«, zischte Norani. »Was heißt das, ihr habt das vorher abgesprochen? Ohne uns etwas zu sagen? Es hat Marvin unendlich viel Anstrengung und Mühe gekostet, alle Parteien wieder an einen Tisch zu bringen. In den letzten zwei Monaten hat er nichts anderes getan, als herumzureiten, zu verhandeln und an ein Burgtor nach dem anderen zu klopfen – mit dem Ergebnis, dass heute sämtliche Ratsherren, Vogte, Grafen und Barone anwesend sind. Und jetzt macht ihr all diese Pläne zunichte?«
Sie funkelte Ramon mit dem Temperament einer Wüstenhexe an – eine unbequeme Gefährtin, wenn sie wütend war. Und sie war wütend. Der einäugige Ritter konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Tut mir leid, Rani«, raunte er ihr zu. »Ich hätte dich ja gerne eingeweiht, aber mir war klar, du würdest uns diesen Moment ruinieren. Ja, es stimmt: Lucian und ich haben uns abgesprochen. Das ist schon ewig her – damals war Constantin noch am Leben. Als er anfing, uns beide zu den Unterredungen und Sitzungen mitzunehmen, haben wir darüber geredet, was aus uns werden soll, falls einer von uns zum König gemacht wird. Und wir haben beschlossen, dass wir diese Wahl auf keinen Fall akzeptieren. Keiner von uns will ohne den anderen den Orden der geweihten Schwerter anführen. Deshalb haben wir euch Folgendes zu sagen.«
Ramon trat vor und legte die Hände auf die Bande. Er sprach nun so laut, dass ihn alle Anwesenden im Innenhof verstehen konnten.
»Lucian nimmt die Wahl nur an, wenn er ab sofort König der zwei Welten genannt wird. Er dient der Tormeisterin und wird Ravenna weiterhin durch alle Zeiten begleiten. Weil er unter diesen Umständen aber nicht immer hier sein kann, werde ich im Mittelalter König sein und die Geschäfte des Konvents führen.«
Beim Wort Mittelalter zwinkerte er Ravenna zu. Ramon hatte das Wort von ihr aufgeschnappt. Die Menschen im dreizehnten Jahrhundert hatten noch keinen Begriff für ihre Epoche.
Sie fasste Lucian an der Hand. »Ist das wahr?«, flüsterte sie ihm zu. »Stimmt es, was Ramon sagt? Ihr habt eine Vereinbarung getroffen? Zwei Könige – geht das überhaupt?«
Lucian nickte. »Es ist doch nur ein Amt«, erwiderte er. »Ein Amt, das vor allem viel Arbeit macht. Nicht einmal Constantin hatte Spaß daran, den ganzen Tag zu Gericht zu sitzen und Gesetze abzufassen. Und zuletzt hat es ihm den Tod gebracht. Glaubst du nicht, dass es besser ist, diese Last auf mehreren Schultern zu verteilen? So wie es in deiner Welt gemacht wird?«
»Doch«, sagte sie verblüfft. »Natürlich.« Plötzlich begriff sie das Funkeln in seinen Augen, über das sie sich den ganzen Vormittag lang gewundert hatte. »Vanessa hatte recht: Du bist ein Schlitzohr«, zischte sie ihm zu. »Der König der Schlitzohren sogar!«
Lucian lächelte und drückte ihre Hand.
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