Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Sein Blick wanderte jedoch besorgt zum Torhaus, wo sich Ferran de Barca und seine Männer von den Bänken aufgerafft hatten.
»Wir protestieren gegen diese Entscheidung!«, rief der Graf. »Lucians Vater brachte die Doña de Aragon auf den Scheiterhaufen! Hunderte von Menschen ließ der Hexer hinrichten und das allein in den letzten Tagen seiner Regentschaft. Meine Tochter Maeve … mein armes, kleines Mädchen starb durch Velascos Schwert.«
Ravenna schluckte. Hinter dem Grafen und seinen Begleitern stand die Schlossgarde mit aufgerichteten Hellebarden. Doppelte Wachen hatten sich am Tor postiert. Man würde Ferran de Barca nicht ohne Widerstand ziehen lassen. Und er hatte zahlreiche Aufständische auf seiner Seite. Plötzlich verkrampfte sich alles in Ravenna. Ein Blutvergießen an diesem Tag, nur weil Lucian König werden sollte … das war eine grässliche Vorstellung.
»Yvonne«, rief ihr Ritter da und winkte ihre Schwester zur Tribüne.
Noch zwei, die sich abgesprochen hatten, dachte Ravenna verwirrt, als sie die Selbstsicherheit bemerkte, mit der ihre Schwester auf das Podest stieg. Sie ließ zu, dass Lucian ihr das Baby aus den Armen nahm.
»Dieser kleine Junge ist mein Sohn«, rief Lucian der Menschenmenge zu. »Bevor wir die Königswahl besiegeln, soll er seinen Namen erhalten. Anschließend werden alle Anwesenden ihre Entscheidung treffen. Ihr könnt im Schloss bleiben und mit uns feiern oder Carcassonne verlassen. Niemand wird Euch aufhalten, Ferran. Doch tut mir den Gefallen und wohnt der Namensgebung bei.«
Wieder entstand Unruhe in der Menge. Lucian hatte einen Erben – diese Nachricht hatte noch nicht alle Menschen in der großen Burgstadt erreicht.
Der Graf de Barca zögerte. Die Gräfin von Navarra stieg aus ihrer Sänfte und gesellte sich zu ihm. Die beiden sprachen eine Weile miteinander. Zweifellos ging es um die Frage, ob sie die Einladung ausschlagen durften. Schließlich nickte der Graue Löwe Lucian zu. Seine Miene blieb wachsam und misstrauisch. Die gegnerischen Adeligen hielten Abstand zu dem Podest.
Behutsam schob Lucian dem kleinen Jungen das Wollkäppchen aus der Stirn. Auf dem Kopf wuchs der erste dunkle Flaum. Auch die Haarfarbe hatte der Kleine von seinem Vater geerbt. Wangen, Kinnpartie und der kleine Schmollmund stammten dagegen eindeutig von Yvonne.
Lucian hielt den Jungen so, dass die Menge ihn bestaunen konnte. Auch der Kleine schaute die Leute an, die Hände zu winzigen Fäusten geballt. Ramon hob den drachengeschmückten Pokal. Weißer Rauch quoll aus der Schale und wehte über seine Hand.
»Mare magyca«, rief Lucian. »Mein Sohn erbte die Gabe des vierten Fürsten: die Macht über das Wasser.«
Sein Freund reckte den Kelch hoch über den Kopf. In der Sonne fing der Nebel an zu leuchten.
»Deshalb soll mein Sohn einen Namen tragen, der diesem Talent entspricht. Und sein Name soll an eine junge Frau erinnern, die einmal vom Meer zum Berg der Sieben kam und über eine ähnliche Gabe verfügte. Maeve, geboren und aufgewachsen in der Grafschaft der de Barcas, ausgebildet in allen magischen Künsten im Konvent der Sieben, von Morrigan anerkannt an dem Tag, an dem sie starb.«
Seine Stimme fing an zu zittern. Jeder konnte es hören. Alle Anwesenden konnten sehen, wie sehr Lucian mit der Erinnerung an seine Jugendliebe kämpfte. Sogar die Soldaten der feindlichen Grafen starrten betreten zum Podest empor. Ramon legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.
»Maeve zu Ehren erhält mein Sohn den Namen Lamar«, verkündete Lucian, sobald er sich wieder gefasst hatte. »Vom Meer – so soll er heißen. Von heute an ist er der Bewahrer des Drachengrals.«
Für ein paar Herzschläge lang war es im Schlosshof von Carcassonne totenstill. Dann riss sich Diego den Hut vom Kopf und schleuderte ihn hoch in die Luft. »Lamar!«, brüllte er übermütig. »Lamar! Lucians Sohn heißt Lamar! Ein Hoch auf den kleinen Hosenscheißer!«
Alle fielen in den Jubel ein. Hochrufe hallten von den Mauern, und in der Stadt läuteten die Glocken. Diegos Kinder rannten auf das Podest zu. Sie kreischten am lautesten.
»Ramon und Lucian von Landsberg, tretet vor«, rief Morrigan. Ihre Stimme ging in dem Lärm beinah unter.
Die beiden Freunde knieten vor der Hexengöttin nieder. Dann sprachen sie den Eid, der sie an die Gesetze der Sieben und an die Magie des Stroms band. Es gab weder eine Krone noch ein Zepter, das herumgereicht wurde. Auch Constantin hatte auf solche Insignien verzichtet.
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