Tore der Zeit: Roman (German Edition)
anwesend ist, beansprucht Yvonne alle Aufmerksamkeit für sich.
Mit einem Mal war sie versucht, den Koffer zu packen und ihn mit vollem Schwung über die Mauer in den Fluss zu werfen. Das würde erst hübsche Bilder abgeben! Auf Beliars dummes Gesicht freute sie sich schon.
Aber Lucian besänftigte sie. »Bestimmt gibt es eine Spielregel, die besagt, dass du so etwas besser nicht tun solltest«, meinte er. »Außerdem wirst du erst dann wieder ruhig schlafen, wenn du deine Schwester gefunden hast. Trotz allem Ärger über sie.«
Ravenna hob den Kopf. »Ärger – ja, allerdings«, murmelte sie. Plötzlich erinnerte sie sich daran, wie aufdringlich Yvonne mit ihrem Ritter geflirtet hatte. Obwohl sie genau wusste, dass Ravenna und Lucian ein Paar waren, hatte Yvonne nichts Besseres zu tun gehabt, als ihm den Kopf zu verdrehen. »Und wie ich mich über Yvonne geärgert habe! Und über dich, weil du sie dir nicht gleich vom Hals geschafft hast.«
Lucian wurde nicht einmal rot. »Ich habe es dir doch schon hundertmal erklärt«, erwiderte er geduldig. »Es war ein Bindezauber, den Yvonne über mich geworfen hatte. Sie besaß eine Haarlocke von mir. Und das Medaillon deiner Großmutter. Ich wollte überhaupt nichts von ihr. Und ich bin sicher nicht der erste Mann, der sich wegen eines Liebeszaubers zum Narren machte.«
»Nein. Aber hoffentlich der Letzte, der auf meine Schwester reinfällt«, murmelte Ravenna. »Also schön. Ganz wie du meinst. Versuchen wir es noch mal.«
Diesmal legte sie die Hände auf die Seitenflächen des Koffers. Es war unangenehm, weil dadurch eine Energiebrücke entstand und sie das Strömen der Magie bis in die Wirbelsäule spürte.
Das Publikum, das sich mittlerweile auf der Île de la Cité versammelt hatte, rückte näher. Die Leute umringten den Tisch und gafften. Ein Junge zwängte sich durch die Menge bis ganz nach vorn, um keine Sekunde dessen zu verpassen, was hier gerade vor sich ging.
Ravenna schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Stattdessen wartete sie auf das Wort, das sich in ihren Gedanken formen würde – das Zauberwort, mit dem sich der Koffer öffnen ließ.
Allerdings erschien kein Wort der Hexensprache in ihrem Geist, sondern das Bild eines Jungen in einem geringelten Pullover. Seine Nase lief, und das Haar hing ihm in die Augen. Ravenna runzelte die Stirn. Genau so ein Junge stand in diesem Augenblick unter den Zuschauern auf der Île de la Cité und schaute ihr beim Hexen zu.
»Verdammt!«
Sie riss die Augen auf, aber da stand der Bursche schon neben ihr. Lucian befand sich auf der anderen Seite des Tischs und kam nicht schnell genug an sie heran. Der Junge griff nach ihr und sie nach ihm. Dann schrie sie auf, weil sie einen scharfen Schmerz am Handgelenk spürte. Der Bursche riss sich los.
»Der Ring!«, schrie Ravenna entsetzt. Sie tastete nach dem Schatz der Hexen, griff jedoch ins Leere. Blutige Striemen zogen sich über ihren Handrücken. »Lucian, er hat das Siegel gestohlen!«
»Hinterher!«, rief der Ritter. Mit einem Griff riss er den Koffer vom Tisch und schwang ihn, um sich Platz zu verschaffen. Entrüstet wichen die Zaungäste auseinander.
Da entdeckte Ravenna den Jungen wieder. Er rannte über den Vorplatz der Kathedrale und steuerte auf eine der Brücken zu. Die Pont d’Arcole führte zum nördlichen Ufer der Seine. Mitten ins größte Gewühl der Stadt.
»Da! Da lang läuft er!«, schrie sie. Ein Absperrgitter trennte sie und Lucian und führte sie immer weiter auseinander. Der junge Ritter war schneller als sie, aber auch sie rannte so schnell wie sie konnte, um den Dieb einzuholen. Vadyms kleinen Laufburschen.
An der Brücke trafen sie und Lucian wieder aufeinander. »Siehst du ihn?«, schrie er ihr über die Köpfe der Passanten hinweg zu. Verwirrt drehten sich die Fußgänger zu ihnen um. Manche schüttelten missbilligend die Köpfe.
»Was soll denn das?«, bellte ein Mann.
»Nein!« Verzweifelt sprang Ravenna auf und ab. Dann entdeckte sie den löchrigen Ringelpulli wieder. »Über den Fluss! Aber pass auf den Verkehr auf!«
Ohne groß Rücksicht zu nehmen, rempelte Lucian die Entgegenkommenden zur Seite. Der Junge hatte inzwischen gemerkt, dass er verfolgt wurde. Er zog den Kopf ein und spurtete wie ein Wiesel durch die Menge. Ravenna ahnte, was ihn erschreckt hatte: Lucian bekam einen furchterregenden Gesichtsausdruck, wenn er wütend war.
Am gegenüberliegenden Ufer sprang die Fußgängerampel auf Rot. Sie achteten
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