Tore der Zeit: Roman (German Edition)
da.« Als die Limousine bremste, beugte sich das Mädchen vor und zog am Türgriff. Helles Sonnenlicht flutete den Innenraum. »Viel Spaß«, wünschte die Kleine, während Ravenna Lucians ausgestreckte Hand ergriff und aus dem Auto kletterte. »Und Kopf hoch. Es wird schon schiefgehen.«
Ravenna verzog den Mund. »Ganz bestimmt«, murrte sie. »Irgendwas geht ja immer schief.«
Die Limousine fuhr davon. Als Ravenna sich umdrehte, starrte Lucian die weiße Kirche an, vor der sie standen. »War da ein Tor? Sind wir gerade durch ein Zeittor gekommen?«, fragte er verblüfft, während er sich auf dem Vorplatz der Kathedrale umschaute. Er hatte recht: Der Park wurde von beiden Seiten vom Fluss umspült. Die Insel wirkte so friedlich und fern des Pariser Straßenlärms, dass man sich fast im Mittelalter wähnte.
»Wir sind auf der Île de la Cité«, stellte Ravenna fest. »Diese Insel ist der älteste Teil von Paris. Hier haben schon Menschen gesiedelt, lange bevor die Römer und die Frankenkönige kamen. Du weißt schon: Druiden, Barden und so weiter.«
Lucian nickte. »Also ein magischer Ort. Nicht schlecht für den Anfang.«
Langsam wanderten sie um die Kathedrale. Die Türme von Notre-Dame ragten einschüchternd in den Winterhimmel. Achtundzwanzig Könige aus Stein wachten über den Westportalen. Vor der riesigen Fensterrose stand eine Statue, beschützt von zwei Engeln.
»Das wollte ich schon immer einmal sehen«, seufzte Ravenna. »Notre-Dame aus der Nähe. Frühe Gotik. Von den Grotesken haben wir in der Ausbildung Kopien gemacht.« Sie zeigte auf eine Gruppe buckliger, gehörnter und geflügelter Geschöpfe, die auf dem Sims hockten. Die Skulpturen wirkten, als beugten sie sich schnatternd und zähnefletschend über die Galerie, bereit, unvorsichtigen Besuchern auf den Kopf zu spucken.
Ihre Arbeit fehlte ihr. Sie hatte sich für ein halbes Jahr beurlauben lassen, um die Suche nach Yvonne voranzutreiben. Aber sie vermisste die derben Späße ihrer Kollegen, den Geruch von nassem Sandstein, das Kreischen der Sägen und das regelmäßige Plingpling der Hämmer. Die Welt der Pariser Hotels, Fernsehstudios und Presseleute kam ihr unwirklich vor. Ihr Zuhause waren die Gerüste rund um das Straßburger Münster, wo sie umgeben war vom Pfeifen des Windes und von Turmfalken, die sich in den Böen auf und ab treiben ließen. Näher konnte man sich dem Mittelalter nirgends fühlen.
Verstohlen griff sie nach Lucians Fingern. Hand in Hand schlenderten sie über die Île de la Cité. Bis Ravenna das Kamerateam auf dem Südturm der Kathedrale entdeckte. Das Teleobjektiv zeigte in ihre Richtung. Wahrscheinlich hatte man sie so dicht herangezoomt, dass man die Worte von ihren Lippen ablesen konnte.
»Psst!«, machte Ravenna, obwohl sie in diesem Augenblick beide schwiegen. Sie machte kehrt und zog Lucian in den Park, wo sie eine immergrüne Hecke vor dem Filmteam verbarg.
»Was ist los?«, keuchte Lucian. Seine Schritte knirschten auf dem gefrorenen Boden.
»Beobachter«, stieß Ravenna hervor und nickte in Richtung Kirche. »Auf dem Turm. Sicher hat der Sender sie hergeschickt.«
Der junge Ritter folgte ihr tiefer in den Park hinein, bis die Kathedrale hinter Büschen verschwunden war. Dann blieb Lucian an einem Marmortisch stehen und fegte den Schnee mit dem Ärmel zur Seite. Anschließend legte er den Koffer auf die Tischplatte. »Und was jetzt?«, fragte er.
Ravenna atmete tief durch. Lucians Gelassenheit tat ihr gut. Für ihn, der geboren worden war, als man gerade mit dem Rosengeschoss der Kathedrale fertig wurde, musste dies alles noch viel merkwürdiger sein – ein Duell der Zauberer, vom Teufel inszeniert und im Fernsehen übertragen. Aber er beklagte sich nicht. Er war einfach da und bot an, ihr zu helfen.
»Jetzt machen wir den Koffer auf«, entschied sie.
Sie griff in ihre Manteltasche und holte das Säckchen hervor, das der Empfangschef im Hotelsafe für sie aufbewahrt hatte. Behutsam knüpfte sie den Beutel auf und schüttelte den Inhalt in ihre Hand. Es war ein schwerer, alter Silberreif.
»Gestern Abend habe ich mich nicht getraut, das Siegel zu tragen«, murmelte sie, während sie den Armreif über ihr Handgelenk streifte. Er passte wie angegossen. »Wenn das jemand erkannt hätte – ein magisches Artefakt aus dem dreizehnten Jahrhundert …« Sie drehte den Arm ins Sonnenlicht.
Die im Silber eingelassenen Rubine glühten auf. In der Mitte des Rings saß eine achtstrahlige Windrose, die von
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