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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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bis in den Stiefel hinablief. Als sie den Kopf hob, bemerkte sie plötzlich, welche Waren auf den Ständen in ihrer Nähe ausgelegt waren.
    An den Gestellen hingen Knoblauchzöpfe, Hasenpfoten und Wachspuppen samt passendem Nadelset, Säckchen mit silbernen Pistolenkugeln und vergoldete Haizähne. Beim Näherkommen entdeckte sie Seifen in Form von Totenschädeln oder Herzen, Haarbüschel mit roten Schleifen, Körbe voller Spindeln, Spiegel und Honigtöpfe, in denen löffelweise ertrunkene Fliegen schwammen. An einer Querstange hingen durchlöcherte Münzen, die an einem verhexten Faden aufgereiht waren. Daneben lagen Kämme, glasierte Äpfel, Liebestränke und mörderische Essenzen, Räucherwerk, verzauberte Würfel und Kartenspiele. In einem Käfig hockte ein schwarzes Huhn. Es gackerte benommen.
    »Nun sieh mal einer an«, murmelte Ravenna. »Der Hexenmarkt. Hierher sollte uns der kleine Dieb also locken.«
    Langsam humpelte sie an den Buden vorbei. Wenn sich der Bursche im Gewühl versteckte, musste sie die Augen offen halten. Vielleicht gehörte das alles zum Plan der Regie, und der Diebstahl war nur vorgetäuscht. Vielleicht sollte der Junge sie einfach nur zu Vadym und seinen Freunden führen und die nächste Auseinandersetzung auslösen. Vielleicht jedoch – und dieser Gedanke jagte ihr einen ordentlichen Schrecken ein – war der Bursche gerade dabei, ihren magischen Hexenring auf diesem Markt zu Geld zu machen. Dann sah sie den Schatz der Sieben nie mehr wieder.
    »Zaubernüsse, ganz frisch!«, bot eine Marktschreierin den Besuchern an, die sich in den Gängen drängten. Sie ließ die Schalen in der hohlen Hand rasseln. »Jede Nuss ein Treffer. Es sind nur ganz wenig Taube dabei!« Sie musterte Ravenna durchdringend. »Geh weiter! Nimm den Gang vorne links!«, raunte sie plötzlich. Dann fing sie wieder mit ihren Nüssen an.
    Ravenna beeilte sich, den Rat der Frau zu befolgen. Offensichtlich war die Händlerin eingeweiht und schickte sie zum geplanten Treffpunkt. Sie zwängte sich durch eine Gruppe von Passanten, die sich um einen Tisch mit ausgehöhlten Kürbissen, Kalebassen und Maultrommeln scharten. Lachende und schwatzende Familien kamen ihr entgegen. Die Erwachsenen knipsten die Marktstände und machten sich gegenseitig auf die gruseligen Auslagen aufmerksam. Die Kinder spielten im Gedränge Versteck. Es waren Schattenseelen – Unbegabte, die von Zauberei nicht die geringste Ahnung hatten. Für diese Touristen war der Hexenmarkt mit seinen magischen Zutaten und exotischen Gerätschaften bloß eine Pariser Sehenswürdigkeit.
    Ravenna ging weiter. An der Ecke hockte eine zerlumpte Wahrsagerin auf den Stufen eines Denkmals. Sie las einem Mann in Anzug und Krawatte die Zukunft. Offenbar verwendete sie dazu abgeschnittene Fußnägel und Kautabak. »Hier abbiegen«, hörte Ravenna, als sie an den beiden vorbeiging. Nervös befingerte der Geschäftsmann das Handelsblatt, das er zusammengerollt unter dem Arm trug. »Welche Aktien soll ich denn nun abstoßen?«, fragte er.
    Gehorsam drehte Ravenna sich um. Unter windschiefen Sonnensegeln breiteten sich vollgestopfte Marktstände aus. In der Mitte ließen sie eine schmale Gasse frei. Am Ende des Gangs lag ein Laden mit einem Rolltor aus Stahl.
    Langsam ging Ravenna auf den Laden zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie das Kamerateam, das auf einem bröckeligen Balkon stand und die Szene drehte. Der Tontechniker hielt eine Mikrofonangel in ihre Richtung. In den Zweigen der Kastanie war ein halbes Dutzend Scheinwerfer befestigt. Ihr grelles Licht ließ den Hexenmarkt wie eine Kulisse wirken.
    Weitergehen! Mach einfach weiter! , winkte ihr der Filmende unwirsch zu. Ravenna begriff – sie sollte nicht in die Kamera schauen. Mit gesenktem Kopf ging sie weiter und wünschte sich, das Ganze wäre nicht Teil von Beliars Inszenierung.
    Ihr Herz klopfte, als sie den Laden am Ende der Zeile betrat. Eigentlich war es kaum mehr als eine Garage, in der es nach Schmieröl, Leder und getrockneten Pilzen roch. An einem Kabel hing eine Glühbirne von der Decke. Der Glaskolben war mit Fliegendreck verklebt. Hinter dem Stahltor stapelten sich Körbe mit braunen, verkorkten Flaschen.
    Ravenna beugte sich über die Behälter. Auf den verschnörkelten Etiketten standen Namen wie Johanniskraut, Seidelbast, Sanddorn und Holunder , außerdem der Tag, an dem der Flascheninhalt gepflückt worden war, und der Tag, an dem man ihn besser in den Müll warf.
    Hexenkräuter mit

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