Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Haltbarkeitsdatum. Und zwar vom Feinsten, stellte Ravenna fest. Auch die Regale quollen über vor Waren. Schatullen mit Haarnadeln und dicken, farbigen Perlen reihten sich an Messerscheiden, Gürtelschnallen und Ballen aus Spitze, die bei näherem Hinsehen wie Spinnweben aussah. Auf dem Schemel in der hintersten Ecke stand eine große, bauchige Karaffe, in der eine goldene Flüssigkeit schwamm.
»Du wagst dich also tatsächlich hierher.«
Beim Klang der heiseren Stimme fuhr Ravenna zusammen. Sie hatte die Hexe nicht bemerkt, die inmitten ihrer Körbe auf einem umgedrehten Kupferkessel saß. Fast wäre sie über die alte Frau gestolpert. In den braunen Lumpen, in die sie gehüllt war, wirkte sie wie ein auf dem Boden abgestellter Sack.
»Ich wurde sozusagen hergeschickt«, erklärte Ravenna. Sie räusperte sich. »Von Ihren Kollegen da draußen. Warum sollte ich auch nicht hereinkommen? Ich dachte, der Laden wäre geöffnet.«
Die Greisin musterte sie. Sie musste wirklich uralt sein, denn sie war völlig in sich zusammengefallen. Nur im Sitzen konnte sie den Kopf heben und Ravenna ins Gesicht sehen. Sie hatte keine Zähne mehr und kaum noch Haare. Die Kopfhaut war mit braunen Flecken übersät. Nur die Augen der alten Hexe wirkten lebendig. Moosgrün leuchteten sie aus dem runzeligen Gesicht.
Ravenna sank auf die Knie. Diese Augenfarbe hatte sie erst ein einziges Mal gesehen.
»Mavelle?« Sie ergriff die Hände der alten Hexe. War das möglich? Konnte es sich wirklich um eine ihrer Freundinnen handeln – eine Hexe aus dem Zirkel der Sieben? Konnte Mavelle nach so vielen Jahrhunderten noch am Leben sein?
»Sehe ich etwa wie eine Elfenhexe aus?«, höhnte die Alte. Sie lehnte sich zurück und musterte Ravenna mit einem abschätzigen Blick. »Du hast sie also tatsächlich gekannt, meine Vorfahrin. Warum bist du nicht rechtzeitig zurückgekehrt?«
»Rechtzeitig zurückgekehrt?« Ravenna zog die Hände zurück. »Was soll das heißen? Wovon sprichst du?«
Die alte Zauberin widmete sich wortlos einem Weidenast und bearbeitete ihn mit einem Schälmesser. In kleinen gerollten Stücken fiel die Rinde in einen Korb. Daraus – das wusste Ravenna noch von ihren Lehrstunden im Konvent der Sieben – ließ sich ein vortrefflicher Trank gegen Fieber herstellen.
»Weißt du nicht mehr, was du den Sieben vor deiner letzten Zeitreise versprochen hattest?«, fragte die Greisin schließlich. »Du wolltest noch vor Mittwinter auf ihren Berg zurückkehren. Aber du bist nie mehr zurückgekommen. Nie wieder.«
»Ich habe es doch versucht«, stieß Ravenna hervor. »Und ich versuche es immer noch! Genau deshalb bin ich hier!« Dann besann sie sich. »Wieso reden wir überhaupt davon? Woher weißt du, wer ich bin?«
Die greise Hexe stach mit dem Messer in die Luft. »Glaubst du, ich würde die Tormeisterin nicht erkennen, wenn sie vor mir steht? Wir sind zwar nicht mehr viele, die das alte Wissen bewahren. Aber die Geschichte von der treulosen Schülerin des Konvents haben wir auch nach siebenhundert Jahren nicht vergessen. Du hast die Sieben im Stich gelassen.«
Ravenna schluckte. »Haben mich die anderen Händlerinnen deshalb hierhergeschickt? Damit du mir das an den Kopf werfen kannst?«
Die Alte schwieg.
»Beliar hat die magischen Tore verflucht«, verteidigte Ravenna sich. »Glaub mir, Lucian und ich wollen nichts lieber als endlich einen Rückweg an Constantins Hof finden. Ich weiß, dass es Probleme gibt. Unser alter Feind ist schließlich wieder frei und treibt bereits seine Spielchen mit mir. Aber Beliar hat dafür gesorgt, dass wir meine Welt nicht mehr verlassen können. Weißt du nicht, was mit den Toren los ist? Manche Portale verdrehen einem Menschen die Gliedmaßen, bis sämtliche Sehnen reißen und man nicht mehr aufrecht stehen kann. Andere schließen sich ohne Vorwarnung und zerquetschen jeden, der unachtsam in das Tor tritt. Wieder andere lösen den Körper auf, ohne dass er an anderer Stelle wieder erscheint. Davon musst du doch gehört haben.«
Die Greisin zuckte die Achseln. Vom Weidensaft waren ihre Finger fleckig.
»Der Strom fließt noch immer. Ich kann es spüren«, fuhr Ravenna fort. »Wenn die Hexen damals gestorben wären, wäre die Magie bestimmt versiegt. Aber das ist nicht geschehen.« Mit dem Handrücken wischte sie sich über das verschwitzte Gesicht. Zum Glück kehrte sie dem Eingang den Rücken zu, während sie vor der Alten auf dem schmutzigen Boden kauerte. So aufgewühlt wollte sie sich
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