Tore der Zeit: Roman (German Edition)
?
Sie setzte sich wieder, nahm den Briefblock des Hotels und begann, sich die Reihenfolge der Zahlen zu notieren. Sie fing in der oberen rechten Ecke an und arbeitete sich nach links unten vor, wie man ein Grimoire las. Ein Zauberbuch. Die Pfeile halfen ihr, aber das Ergebnis war verwirrend: Es begann mit 12 , dann folgten X und 1875 . Eine Jahreszahl, zweifellos. Vielleicht war es ein Datum? Der 12. Oktober 1875 – das klang logisch.
Aber dann führten sie die mit Kreidestaub gefüllten Linien weiter zu 99 und 00 . Und es wurde noch schlimmer: Equinox, K2, 6600 und OTO stürzten sie vollends in Verwirrung. All das ergab überhaupt keinen Sinn. Den Abschluss bildete ein sechszackiger Stern, dessen horizontale Spitzen seltsam flachgedrückt waren.
Idiotisch, dachte Ravenna. Sie hatte keine Ahnung, wie sie diese Aufgabe lösen sollte. Das Ganze kam ihr wie ein Bilderrätsel vor – und sie hasste Bilderrätsel.
Sie fuhr hoch, als vom Flur her plötzlich ein lautes Poltern zu hören war. Mit wenigen Schritten war sie bei der Tür, riss sie auf und spähte in den Gang. Nichts. Der Flur lag wie ausgestorben da. Die Nummern an den anderen Zimmertüren glänzten im Licht.
Sollte sie tatsächlich an die Existenz von Poltergeistern in diesem schicken Pariser Hotel glauben? Wohl kaum, auch wenn Philippe der Spaziergang mit dem Mops bestimmt guttat. Sie wollte die Tür wieder schließen. Da bemerkte sie die schmutzigen Fußabdrücke auf dem Teppich.
Jemand hatte vor ihrer Zimmertür gestanden. Solche Abdrücke hinterließen Winterstiefel mit rutschfestem Profil, die irgendwo durch ein gefrorenes Blumenbeet getrampelt waren. Nicht gerade das, was Lucian augenblicklich an den Füßen trug. Und ganz sicher nicht die Art von Schuhwerk, die zu den Hotelgästen passte. Die Abdrücke waren frisch.
Ravenna fluchte lautlos. Sie trat ins Zimmer zurück und sperrte die Tür von innen zu. Als sie sich umdrehte, stand der Schatten wieder auf dem Balkon – kantig, irgendwie gebückt, lauernd.
Sie stürzte zum Fenster. Aber als sie den Vorhang mit einem lauten Schrei zur Seite riss, war der Verursacher der Erscheinung verschwunden. Dafür prangte ein Symbol an der Scheibe: ein umgedrehtes Pentagramm, mit dem Finger in einen hingehauchten Atemfleck gezeichnet.
»Katzendreck!«, fluchte Ravenna, weil wildes Fluchen gut war gegen Angst und schwarze Magie. Ihr Puls raste, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wünschte, Lucian wäre hier, um sie gegen die Lauscher und die herumhuschenden Schatten zu verteidigen.
Sie holte tief Luft. Lucian war nicht hier. Er irrte vermutlich gerade in Strümpfen durch Paris und verfluchte den Starrsinn seiner Hexe. Also musste sie selbst etwas tun.
Sie schaltete das Licht aus. Dann holte sie die Kreide aus ihrer Hosentasche und drehte sich mit dem Gesicht nach Osten. Ein Schutzzirkel war notwendig, bevor man sich mit Alchemie befasste. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Dieses magische Handwerkszeug gehörte zum Grundwissen jeder Hexe. Doch in der schimmernden Umgebung des Hotels war es ihr einfach nicht in den Sinn gekommen.
» Aeirincræft, qoman ayneir «, flüsterte sie und zeichnete im Halbdunkel ein Symbol an die Wand: ein Blatt, das im Wind segelte. Beides, den Ruf und das Zeichen, hatten ihr die Sieben beigebracht.
Als sie fertig war, vollführte sie eine Vierteldrehung und ging zur nächsten Wand.
»Fyrcræft, qoman ayneir« , rief sie, leise und vorsichtig, denn mit Feuer spielt man nicht. Dann zeichnete sie eine Flamme neben den Durchgang zum Badezimmer.
Bevor sie das Symbol vollenden konnte, ertönte unten vor dem Hotel ein Klirren. Es war ein lautes Scheppern, als ob eine Gartenvase umfiel oder eine Glastür zu Bruch ging. Einige Herzschläge lang lauschte Ravenna mit angehaltenem Atem. Dann fiel ihr Blick auf den alchemistischen Koffer.
Er sonderte eine Art Harz ab. An der Stelle, an der sich normalerweise die Naht zwischen beiden Kofferhälften befand, traten rotbraune, klebrige Tröpfchen aus. Wie eine Borte rostiger Tränen zog sich die Spur über den Samt und verklebte mit der Tischplatte.
Der Koffer blutete.
»Ist das widerlich«, stieß Ravenna hervor.
Die Kreide ließ die Ziffern und Zeichen auf der Oberseite leuchten. Und dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Ihr Mund formte ein erstauntes Oh, doch bevor sie den Laut hervorstoßen konnte, krachte etwas Schweres gegen die Zimmertür. Die Tür erzitterte in ihrem Rahmen – und dann gleich
Weitere Kostenlose Bücher