Tore der Zeit: Roman (German Edition)
dem Kreis der Hexen vertrieb. Und an Lucian, weil er dir sein ganzes Leben lang widerstanden hat, Acencræft hin oder her. Aber uns in aller Öffentlichkeit durch einen mörderischen Parcours zu jagen – das ist wirklich total krank.«
»Ich bitte dich, Ravenna. Bist du jetzt schon mit den Nerven am Ende? Das war doch erst der Anfang.« Beliar lachte leise. Dann blieb er stehen. »Möchtest du deine Schwester wiedersehen oder nicht? Möchtest du denn gar nicht erfahren, wie es Yvonne geht? Sie hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten natürlich auch weiterentwickelt, genau wie du. Sie ist, wie soll ich sagen, gewissermaßen über sich hinausgewachsen.«
Schnell presste Ravenna die Hände auf die Ohren, denn plötzlich hörte sie einen viel zu hohen und viel zu schrillen Laut. Wie der Schrei einer Harpyie. Oder ein durchgescheuerter Keilriemen. Ein weißer Schatten segelte über sie hinweg – eine Schleiereule, mitten in Paris? Nach ein paar Flügelschlägen war der Vogel verschwunden.
An der verwunderten Reaktion des Paares, das sich an ihnen vorbeizwängte, merkte sie, dass nur sie das Kreischen gehört hatte. »Verdammt«, keuchte sie, während ihr Herz wummerte. »Was war das?«
Beliar hatte die Hände in die Manteltaschen gesteckt. Er zuckte die Achseln. »Ein Echo der Vergangenheit. Oder der Zukunft. Wer weiß? Warum gehst du nicht nachsehen? Durch ein magisches Tor natürlich.«
Ravenna rieb sich über das Gesicht. Mittlerweile schlotterte sie vor Kälte und Anspannung. Beliar spielte mit ihr. Das Problem an der Sache war nur, dass sie sich in sein Jagdrevier verirrt hatte. Und sie war, wie Lucian gesagt hatte, auf dieser Seite der Tore ganz auf sich allein gestellt.
»Also schön«, stieß sie hervor. »Wir haben sowieso keine andere Wahl, nicht wahr? Wie geht es jetzt weiter?«
Ein merkwürdiges Glitzern erschien in Beliars Augen. Das hungrige Funkeln erinnerte sie an den Gesichtsausdruck eines Spielsüchtigen, wenn er ins Kasino trat. Der Teufel musste mit dieser Antwort gerechnet haben. Dennoch versetzte es ihn in Hochstimmung, wenn wieder eine seiner Listen aufging.
»Für heute sind wir schon am Ziel«, verkündete er und legte den Kopf in den Nacken. Er hatte recht, sie standen vor dem Hotel. Die gelbe Fassade hinter den immergrünen Hecken war freundlich erleuchtet. Stuck umrahmte die Fenster. Eine Säulenhalle bildete den Eingang. Klassizistischer Schnickschnack, fand Ravenna.
»Es wird Zeit, dass du den alchemistischen Koffer öffnest«, erinnerte sie Beliar, während er noch immer auf die glänzenden Fensterscheiben starrte. »Sieh nach, was er enthält! Alles Weitere wird sich finden.«
Mit diesen Worten lüftete er den Hut und wandte sich zum Gehen.
Ravenna ging auf den Eingang des Hotels zu. Unter dem Vordach blieb sie stehen und presste beide Hände auf die Ecksteine. Stein zu berühren gab ihr Halt. Es beruhigte sie. Stein fühlte sich unvergänglich an. Vor allem, wenn man die Tatsache verdrängte, dass selbst Granit aus flüssiger Gesteinsschmelze entstanden war und mit der Zeit verwitterte.
Die Ecken des Hotels bestanden aus Sandstein. Mit den Handflächen ertastete Ravenna die raue Oberfläche. Sie war scharriert worden. Gleichmäßige Hohlkehlen verliefen vertikal über den Stein. Die Hiebe waren nur wenige Millimeter breit. Ausgezeichnete Handwerkskunst.
Sie hatte Heimweh. Nach Jacques und Georges und den anderen Kollegen. Nach ihrer kleinen Dachkammer über der Ill, nach ihrem alten, unkomplizierten Leben. Sie ließ die Stirn gegen die kalte Mauer sinken und atmete aus. Ein Leben, in dem Lucian nicht vorkam.
Die gläserne Hoteltür öffnete sich. Philippe, der Empfangschef, trat ins Freie. Er führte einen Mops mit Glitzerhalsband an der Leine. Die Leine war aus pinkfarbenem Lackleder.
Philippe grüßte sie mit einem Augenzwinkern. »Das Hündchen der alten Dame aus 313«, stellte er vor.
»Ist er da?«, stieß Ravenna hervor, obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen.
Sofort nahm das Gesicht des Concierge einen mitfühlenden Ausdruck an. »Ich bedaure«, sagte er. »Bisher ist Lucian noch nicht zurückgekehrt. Soll ich die Taxigesellschaft anrufen und mich erkundigen?«
Ihr Hals und ihr Dekolleté glühten. Insgeheim hoffte sie, dass der Empfangschef die Röte auf die Kälte zurückführte. Beliar hatte also gelogen. Er hatte sehr wohl gesendet, wie sie in das Taxi hinein- und nach ein paar hundert Metern wieder heraussprang.
»Nein«, sagte
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