Tore der Zeit: Roman (German Edition)
ihr Handgelenk. Als das Silber ihre Haut berührte, keuchte sie auf. Das Siegel brannte wie Eis. Nach ein paar Atemzügen schien Lucians Kopf wieder auf normale Größe abzuschwellen. Sein Gesicht, das wie in einem Zerrspiegel gewabert hatte, bekam wieder klare Konturen. Der Schnitt in seiner Backe war ziemlich tief.
»Geht es? Geht es wieder? Kannst du mich jetzt verstehen? Dann sag mir, ob du die Wünschelrute noch bei dir hast?«
Ravenna tastete über ihre Kleider und gab Lucian ein Taschentuch, damit er sich das Blut abwischen konnte. Die Rute fand sie schließlich in einer Tasche auf der Innenseite des Mantels.
»Ich hab sie«, stammelte sie, war aber nicht sicher, ob Lucian das Genuschel verstand. »Das war ein Lähmungsfluch. Es gab ein Zeichen an der Fensterscheibe.« Ihr Mund fühlte sich pelzig an. Die Zunge war ihr im Weg. »Schneidet meine Gabe vom magischen Strom ab. Wo lernt ein Falschspieler wie Vadym denn so was?«
»Ich würde sagen, in der Loge der mystischen Mathematiker«, knurrte Lucian. »Glaubst du, du schaffst es bis zur Treppe?«
Ravenna nickte. In Wirklichkeit bogen sich ihre Beine wie Stelzen aus Gummi. Sie biss die Zähne zusammen, stützte sich gegen die Wand und bemühte sich, aus eigener Kraft zu stehen, ohne gleich hinzufallen.
In ihrem Zimmer krachte ein Stuhl zu Boden. Jemand war dort eingedrungen und durchsuchte den Schrank. Sicher merkte der Einbrecher schnell, dass der alchemistische Koffer längst leergeräumt war. Lucian fluchte lautlos und zog das Schwert.
Nein! Nein!, bedeutete Ravenna ihm und zeigte auf den langen, hell erleuchteten Flur. Lass uns fliehen, bedeutete sie ihm. Die ersten Schritte fühlten sich taumelig an, als müsste sie auf Beinstümpfen ohne Füße gehen. Sie hielt sich an der Wand fest. Die Lichter an der Decke schienen über sie hinwegzurasen wie Lampen in einem U-Bahn-Schacht.
Linkerhand lag der Lift. Einige Schritte weiter führte die Treppe in die Tiefe. Erst als sie am Aufzug vorbeigegangen waren, erkannte Ravenna, weshalb das Hotel wie ausgestorben wirkte: Die Russen hatten es sich unten in der Lobby bequem gemacht. Sie flegelten in den gestreiften Sesseln und rauchten, durchwühlten die Postfächer an der Rezeption, ungehindert von dem verängstigten jungen Nachtportier. Er kauerte hinter dem Tresen und hielt die Hände über den Kopf, während einer der Russen ihn mit einer Waffe bedrohte.
»Siehst du das?«, flüsterte Ravenna. »Was machen die denn da? Wonach suchen sie?« Die Angst verdrängte langsam die Nachwirkungen des Fluchs. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
Lucian antwortete nicht. Plötzlich fuhr ein kleines, weißes Auto vor. Alle stürzten zur Glastür – mit Ausnahme des Nachtportiers, der ins Nebenzimmer kroch und die Tür hinter sich verriegelte.
Ravenna musste sich anstrengen, um zu erkennen, was vor der Hotelhalle vor sich ging. Zwischen den Beinen der Russen entdeckte sie das Logo auf der Autotür. Offenbar gehörte der Wagen zu Kanal 5. Ein dünner Brillenträger in grauem Zwirn stieg aus. Ein Prokurist oder ein Anwalt. Er trug eine Aktenmappe unter dem Arm. Ein heftiger Wortwechsel entstand, in dessen Verlauf die Magier aus Sankt Petersburg den Prokuristen umkreisten und ihn zwangen, den Kofferraum zu öffnen.
Ravenna reckte den Hals. Bei dem Streit ging es offenbar um einen großen, ziemlich schweren Sack.
Lucian fasste sie am Arm. »Zurück!«, raunte er. »Komm schon! Wir müssen wieder zurück und uns einen anderen Weg suchen.«
Widerstrebend gab Ravenna nach. Sie hätte zu gerne erfahren, was sich in dem Sack befand. Aber Lucian hatte recht. Sie sollten aus dem Hotel verschwinden, solange noch Zeit dafür war.
Als sie wieder an ihrem Zimmer vorbeihuschten, öffnete sich die Tür und der Eindringling trat in den Flur. Es war Cezlav.
»Scheiße! Was wollt ihr denn chier?«, schrie der Magier undeutlich. Von dem Hieb, den Lucian ihm versetzt hatte, waren seine Lippen blaurot geschwollen. Er griff sofort nach dem Revolver, der in seiner Bauchbinde steckte. Da bohrte sich Lucians Schwert in seine Magengrube – glücklicherweise mit dem Heft voraus. Cezlav wurde grau im Gesicht und stürzte zu Boden.
»Großer Gott«, stöhnte Ravenna.
Der Magier wand sich und schlug mit den Beinen aus, unfähig, einen Laut hervorzustoßen. Lucian entwand ihm die Pistole und warf sie in einen Wäscheschacht, in dem sie klappernd verschwand. Er packte Ravenna am Arm, und sie rannten durch den Flur. Am Ende des Gangs
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