Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
Vom Netzwerk:
sie entschlossen. »Wenn Lucian zu mir zurückkommt, soll er es von ganz allein tun. Aus eigenem Antrieb.«
    »Keine Sorge. Das wird er«, beruhigte sie Philippe. In diesem Augenblick liebte sie ihn für sein großes Herz.
    Während der Concierge den Hund ausführte, betrat Ravenna das Hotel. Ungeduldig ging sie vor dem Aufzug auf und ab und nahm schließlich doch die Treppe. Geräuschlos rannte sie auf den mit Teppich verkleideten Stufen nach oben.
    Die Zimmertür war abgeschlossen. Als sie eintrat, fand sie dieselbe Unordnung vor wie vor ihrem Auftritt bei Vanessa. Ihre Sachen lagen überall verstreut. Lucian dagegen hielt peinliche Ordnung – eine Gewohnheit aus dem höfischen Leben auf Burg Landsberg.
    Dankbar schlüpfte sie aus den Schuhen, zog den Reißverschluss des Kleids auf und warf es über die Stuhllehne. Anschließend streifte sie Jeans, Wollsocken und einen flauschigen Rollkragenpullover über. Das war die echte Ravenna, nicht diese alberne Anziehpuppe, an der Stilberaterinnen und Visagistinnen mit Puderquasten herumfummelten. Als sie fertig war, raffte sie die langen Haare im Nacken zusammen und zog ein Haargummi durch die Locken. Zuletzt holte sie den alchemistischen Koffer aus dem Schrank.
    Sie legte ihn auf den Schreibtisch und setzte sich davor. Eine Zeitlang starrte sie den Koffer an und versuchte, sein düsteres Geheimnis zu ergründen.
    Auf irgendeine Weise musste sich der Koffer öffnen lassen. Dafür war er schließlich vorgesehen. Nach einer Weile nahm sie den Hörer von der Gabel und wählte eine Null.
    »Er ist noch immer nicht erschienen. Sobald er hier eintrifft, werde ich ihm sagen, dass Sie auf ihn warten«, berichtete Philippe, bevor sie auch nur irgendetwas sagen konnte.
    »Danke«, hauchte Ravenna. Dann räusperte sie sich. »Könnten Sie mir vielleicht ein Stück Kreide besorgen? Ganz normale Tafelkreide, bitte.«
    »Sehr wohl, Madame«, sagte der Concierge. Er legte auf.
    Ravenna fürchtete schon, dass er ihr das Stück Kreide auf einem Silbertablett servieren ließ. Aber der Hotelpage kramte es ganz zwanglos aus der Hosentasche, nachdem er einige Minuten später an ihre Zimmertür geklopft hatte.
    Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch. Langsam machte sie sich wirklich Sorgen um Lucian. Das schlechte Gewissen plagte sie, denn in dieser Stadt, in dieser Zeit war sie so etwas wie sein Schutzengel. Sie wusste, wie die Dinge im einundzwanzigsten Jahrhundert funktionierten. Er dagegen hatte wieder mit seinen Drachen angefangen, als sie zum ersten Mal mit der Métro gefahren waren. Als ob irgendwelche das Tageslicht scheuenden Echsen die Tunnelröhren gegraben hätten! Und nun hatte sie ihn ohne Geld, ohne Ausweis und mit nur einem Schuh in einem Pariser Taxi zurückgelassen.
    Aber wie dem auch sei – ein Ritter König Constantins ist doch wohl in der Lage, sich wieder aus dieser Klemme herauszuwinden, dachte sie. Sie nagte mit den Zähnen an ihrer Unterlippe und begann, die Kreide auf der Seifenschale aus dem Bad zu zerreiben. Sobald sie ein Drittel des Stücks aufgebraucht hatte, hob sie die Schale an die Lippen und blies den Staub in die Luft.
    Die Kreide wirbelte auf, verteilte sich über dem Schreibtisch und landete dabei auch auf dem Koffer. Überrascht stellte Ravenna die Seifenschale zur Seite. Auf dem Deckel zeigte sich ein komplexes Muster: Kreise und Quadrate, in denen Zahlen oder Begriffe notiert waren. Die Formen waren durch Pfeile miteinander verbunden. Wie ein Schaltkreis sah das aus.
    »Vadym, du Schlitzohr«, murmelte Ravenna und lachte vergnügt, während sie ihre Kreidefinger an der Hose abwischte. Der Russe hatte recht gehabt. Der alchemistische Koffer war tatsächlich durch einen magischen Zahlencode geschützt. Sie musste nur herausfinden, in welche Reihenfolge man die Ziffern bringen musste. Dann ergab sich die Lösung von ganz allein.
    Ein Schatten huschte über den Balkon. Ravenna zuckte zusammen. Sie hatte die Bewegung nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Hastig stand sie auf, zog den glatten, cremefarbenen Vorhang zur Seite und öffnete die Glastür.
    »Lucian?«
    Es war nicht mehr als ein hoffnungsvolles Flüstern. Aber der Balkon lag verlassen da. Ravenna trat ans Geländer. Auf der Straße glitzerte Frost, und das Eis in den Hecken knackte. Enttäuscht kehrte sie ins Zimmer zurück und schloss die Balkontür. Aber warum sollte ihr Ritter auch über die Brüstung klettern, vierhundertfünfzehn Jahre nach der Veröffentlichung von Romeo und Julia

Weitere Kostenlose Bücher