Tore der Zeit: Roman (German Edition)
»Wer meinen Sohn festhält, bekommt den Preis!«
An Beliars zornigem Gesicht erkannte Lucian, dass auch das gegen die Absprachen war. Wie Hunde, die man von der Leine ließ, stürmte die Menge vorwärts. Sein Bewegungsspielraum auf der schneebedeckten Fläche schrumpfte rasend schnell zusammen.
»Ravenna!« Sein Herz überschlug sich fast, als er sie auf den Treppenstufen entdeckte, schutzlos und ohne Deckung. Er wollte nur, dass sie die Festung verließ – ob mit ihm oder allein. Sie hatte nur diese eine Chance.
Doch sie zögerte. »Raus hier!«, brüllte er ihr zu.
»Maledicco!« , schrien die Einwohner von Carcassonne. »Tod dem Sohn der Krähe!«
Sie schoben sich zwischen ihn und seine Hexe, drängten sich um ihn. Unzählige Hände streckten sich nach ihm aus. Eine zahnlose Alte rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und schmatzte, als wäre er ein fettes Ferkel, bereit für den Grill. Ein Junge in einer rußverschmierten Lederschürze teilte die Menge mit beiden Armen, um sich wutentbrannt auf ihn zu stürzen – zweifellos der Sohn des Schmieds. In diesem Augenblick durchzuckte Lucian die Erkenntnis, dass sich in den über siebenhundert Jahren zwischen diesem schneereichen Morgen und Ravennas Zeitalter nicht sehr viel ändern würde: Gier blieb Gier, und manche Menschen waren in jedem Jahrhundert bereit, für einen Sack voller Gold zu töten.
»Zurück«, brüllte er die Leute an. »Zurück mit euch, sage ich!« Ein Schwung mit dem Schwert verschaffte ihm schließlich Respekt. Er hatte auf niemanden gezielt, brauchte bloß Platz zum Atmen. Im nächsten Augenblick drängte ihn die Menge weiter.
Seine Hexe hob die Arme. Ihr Anblick war grausig und schön zugleich. Sie zitterte, umhüllt von eisblauem Leuchten. Das Schwert in seiner Hand begann zu sirren. An der Spitze der Klinge bildeten sich winzige, leuchtend blaue Bläschen. Sie lösten sich vom Stahl und schwebten in einer Spirale um die Klinge, bis sie auf seine Hand trafen und zersprühten. Er hatte keine Ahnung, ob die Erscheinung auf Ravennas Magie zurückzuführen war, aber er nahm es an. Sie jagte ihm nicht weniger Angst ein als den Zuschauern aus dem Mittelalter.
Er hob die Waffe. Endlich wichen die Menschen zurück, flohen vor ihm. Ravenna rief ihm etwas zu, aber im panikartigen Lärm ringsum ging ihre Stimme unter. Velasco stürmte die Treppe herunter und brüllte seinen Soldaten Befehle zu, verstärkte den Trupp am Tor. Zahlreiche Menschen rannten zur Barbakane, ungeachtet der Bewaffneten, die dort Stellung bezogen.
Die Massen drängten von hinten und von der Seite gegen ihn, schubsten ihn vorwärts. Lucian musste sich gegen zudringliche Griffe wehren, umklammerte das Schwert und versuchte die verletzte Hand vor Stößen zu schützen.
Plötzlich prallte etwas Schweres gegen seinen Rücken. Mit Armen und Beinen klammerte sich der Lockenschopf an ihm fest, keuchte ihm ins Ohr. Mitten zwischen den rennenden und schreienden Menschen ließ Lucian das Schwert fallen. Er bückte sich, langte mit der freien Hand nach hinten und zerrte den Burschen mit aller Kraft über seinen Kopf – so wie man nach einem langen Ritt das Kettenhemd loswurde. Der Junge schlug hart auf dem Rücken auf, ein mutiger Gegner, denn er hatte seine Sichelwaffe nicht wiedergefunden. Stattdessen griff er einen Ritter des Königs mit bloßen Händen an. Ehe der Narr wieder Luft bekam, schleuderte Lucian das Schwert mit dem Fuß empor, packte den Griff und setzte dem Jungen die scharfe, von flimmernden Sternen umgebene Spitze auf die Kehle.
»Flieh aus der Stadt!«, stieß er hervor. »Wenn du einen guten Rat hören willst: Lass dich nicht von einem wie meinem Vater kaufen.«
Mit diesen Worten ließ er den Jungen liegen. Er bewegte sich seitlich den Hang hinauf, ungeschickt und stolpernd mit der Hand, die auf dem Rücken festgeschnürt war und längst auf den dreifachen Umfang angeschwollen schien. Die Menge schnitt ihm den Weg zum Torhaus ab – und zu Ravenna, die immer wieder im Fußvolk von Carcassonne verschwand.
Yvonne stand auf der Terrasse. Sie starrte zu ihm herunter, und etwas an diesem Blick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. »Wo ist sie?«, brüllte er zu ihr hinauf. »Siehst du sie noch? Was hat deine Schwester vor?«
»Lauf zum Torhaus!«, rief sie ihm zu. »Nun mach schon! Ich halte Velasco auf.«
Es gab keinen Grund, weshalb sie ihm helfen sollte – im Gegenteil. Als sie sich zu seinem Vater umdrehte, klaffte ihr Umhang vorne auseinander. Für
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