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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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Schlapphut für einen großen Magier zu halten.
    Endlich öffnete sich die Tür, und die Bewohner des Schlosses traten ins Freie: allen voran Velasco, wie immer in schwarzes Leder gehüllt und mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen. Ihm folgte eine kränklich aussehende junge Frau. Ihr Federumhang bauschte sich im Wind. Yvonne kam als Dritte. Sie wirkte schlecht gelaunt und unausgeschlafen. Ein Diener führte sie zu einem hohen Lehnstuhl und breitete ein Wolltuch über ihre Beine. Ein Mantel schützte sie zusätzlich gegen die Kälte.
    Dann stockte Lucian der Atem.
    Ravenna trat als Letzte auf die Terrasse. Sie sah einfach unglaublich aus. Ihre Erscheinung an diesem Morgen übertraf alles, sogar den Auftritt bei Vanessa. Man hatte sie in ein schmal geschnittenes, eng anliegendes Kleid gesteckt, Surcot genannt. Es war so makellos weiß, dass es selbst gegen den Schnee zu blenden schien. Statt des grauen Hexenmantels lag ein weicher Pelz um ihre Schultern, ein Mantel wie für eine Königin. Ihr Gesicht war blass wie Elfenbein und von wilden Haarsträngen umrahmt. Die Lippen glänzten blutrot. Über ihrem Haar und um ihre Schultern schwebten winzige Sterne, die bei jeder Bewegung eisblau aufglühten.
    Die Leute wichen angstvoll zurück, als Ravenna an die Brüstung trat. Die Bauern aus dem Dorf am Fluss schlugen magische Schutzzeichen. Die Handwerker senkten die Köpfe und fluchten, und die Mütter schirmten die Gesichter ihrer Kinder ab, damit sie der Blick der Weißen Frau nicht traf. Sogar die Palastwachen brachen in überraschtes Gemurmel aus. Und dann endlich durchschaute Lucian den hinterhältigen Plan des Spielmachers: Ravenna sah absolut furchterregend aus.
    » Maledicco «, flüsterte jemand in seiner Nähe. »Das ist die Weiße Königin! Die Spukfrau aus den Bergen!«
    Lucian fuhr herum, um den jungen Soldaten drohend anzufunkeln. Die weiße Geisterkönigin aus den Pyrenäen – das war ein Märchen, mit dem man ungezogene Kinder erschreckte. Doch das Wort pflanzte sich bereits fort, es eilte von Mund zu Mund, bis es sich wie ein vielstimmiger Frosthauch über der Festung erhob. Maledicco .
    Seine Hexe wurde verflucht !
    »Ravenna!«, schrie er und zerrte an den Fesseln. Sofort drängten ihn die Wächter zurück unter den Torbogen. Ravenna hatte seinen Schrei jedoch gehört. Sie zuckte zusammen und reckte den Hals. Sogar von der nördlichsten Ecke des Burghofs aus konnte Lucian sehen, dass sie Angst hatte. Ihre Augen waren voller Panik aufgerissen, während sie sich bemühte, einen aufrechten und beherrschten Eindruck zu machen – weil Beliar sie unermüdlich filmte.
    Der Spielmacher gesellte sich nun zu der Gruppe der Fürsten und legte die Kamera vor sich auf den Sims. Das rote Aufnahmelämpchen leuchtete.
    »Meine Freunde«, rief er und breitete die Arme aus. »Verehrte Gäste und Grafen! Wir befinden uns heute in Carcassonne, einer der ältesten und aufregendsten Burgen in ganz Frankreich. Mein Freund und Burgvogt GrafVelasco, der diese Festung in meinem Auftrag verwaltet, hat euch ein Spektakel versprochen, an das ihr euch bis ans Ende eurer Tage erinnern werdet. Nun ist es endlich so weit!«
    Zufrieden schaute Beliar im Schlosshof umher. Unzählige Gesichter waren ihm zugekehrt.
    »Ravenna hat ihre Prüfung bestanden«, berichtete er. »In der vergangenen Nacht ist es ihr gelungen, die alchemistische Truhe zu öffnen und sich mit dem Geheimnis der Schatzkarte vertraut zu machen.«
    Mit angehaltenem Atem hörte Lucian zu. Eine Karte? Die nächste Aufgabe hatte mit einer Landkarte zu tun? Er bemerkte, dass auch Yvonne zurückhaltend applaudierte. Ravenna stand regungslos an der Brüstung und starrte in die Menge.
    »Gleich werden wir erfahren, ob auch ihr Begleiter der Herausforderung gewachsen ist«, fuhr der Spielmacher fort. Beliar winkte in Lucians Richtung. »Mit nur einer freien Hand wird Ravennas Ritter gegen seine Gegner kämpfen. Gewinnt er, dürfen er und seine Hexe das Schloss verlassen. Unterliegt er aber, muss Ravenna alleine losziehen, um die Aufgabe zu lösen.«
    Lucian fluchte. Sein empörter Aufschrei ging jedoch im Raunen der Menge unter. Unter der dicken Puderschicht wurde Ravennas Gesicht noch weißer. Beliars Ankündigung war kaum verklungen, da sammelten sich seine Wächter um ihn. Der Hauptmann stieß ihn vorwärts. Während er zwischen seinen Bewachern auf den Platz schritt, heftete er den Blick auf Ravenna, als könnte ihr sein hilfloses Starren Mut machen. Auch sie ließ ihn

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