Tore der Zeit: Roman (German Edition)
derben Stiefeln.
»Sieh an, der Sohn unseres Schlossherrn weiß meinen Namen noch«, sagte er zu dem schmächtigen Dieb. Nein, es war kein Dieb, sondern jemand, der das geborstene Schwert aufgesammelt hatte, damit es Velasco nicht in die Hände fiel, dachte Lucian.
»Ist das zu fassen? Dabei ist es wirklich verdammt lange her, dass wir uns zum letzten Mal sahen. Damals reichten wir kaum bis an die Steigbügel der Schlachtrösser heran.«
»Diego!«, stieß Lucian hervor. »Willst du dir etwa auch die Belohnung verdienen?«
Der junge Mann an seiner Seite fing an zu lachen. Seine Stimme hatte jedoch einen stahlharten Unterton. »Velascos Kopfgeld? Bist du verrückt geworden? An jedem einzelnen Goldstück würde dein Blut und das deiner Hexe kleben. Nein, Lucian: Ich schulde dir noch einen Gefallen. Endlich bekomme ich die Gelegenheit, meine Schuld zurückzuzahlen. Allerdings ist es notwendig, dass du mir jetzt schnell und unauffällig folgst, statt hier Maulaffen feilzuhalten.«
Lucian befreite den linken Arm aus der Decke, griff nach dem vermeintlichen Dieb und zog ihm die Kapuze vom Kopf. Es war Ravenna. Sie hatte einen Männerumhang über das Pelzcape geworfen, um unerkannt zu bleiben. Tränen zogen feuchte Bahnen durch die Puderschicht auf ihrem Gesicht, und sie umklammerte die Bruchstücke seines Schwerts mit bloßen Händen.
»Kommst du jetzt endlich mit uns?«, stieß sie hervor. »Du hast Diego doch gehört: Wenn wir noch länger hier herumstehen, werden die Leute auf uns aufmerksam.« Sie nickte in Richtung einer Gruppe Handwerksgesellen, die sich an einem Brunnen versammelt hatten. Unruhig starrten sie zu ihnen herüber.
»Was ist los mit dir?«, fragte Lucian. »Geht es dir gut?«
»Ich dachte, die bringen dich um«, platzte Ravenna heraus und konnte das Schluchzen nun doch nicht mehr unterdrücken. »Erst diese drei Spinner auf dem Platz und dann Velasco. Als ich euch im Torhaus kämpfen sah, dachte ich, jetzt ist es vorbei.«
»Meine tapfere Hexe.« Mit dem Handrücken streichelte Lucian ihre Wange, doch das führte dazu, dass er Dreck, Blut und Erde auf ihrem Gesicht verteilte. Erschrocken zog er die Hand zurück. »Ich wollte den Schmied nicht töten«, stieß er hervor. Dann merkte er, dass seine Worte überhaupt keinen Sinn ergaben. »Wirklich, das wollte ich nicht«, wiederholte er.
»Du hast ihn nicht getötet«, erwiderte Ravenna. »Auf dem Platz war ein verfluchtes Tor – zumindest Reste davon. Absoluter Wahnsinn, all diese Leute in die Nähe dieses Dings zu lassen! Es hätte noch viel mehr passieren können. Der Schmied ist in sein Unglück hineingestolpert. Du konntest wirklich nichts dafür.«
Er sah sie an. »Und Yvonne?«
Ravenna zuckte mit den Achseln und presste die Lippen zu einem Strich zusammen. »Sie wollte nicht mitkommen«, flüsterte sie. »Ich habe sie angefleht, uns zu begleiten. Aber sie wollte nicht. Sie wollte lieber hierbleiben. Bei Beliar und Velasco. Auf der Seite der Macht.«
Behutsam setzte Lucian ihr die braune Kapuze wieder auf. »Diego hat recht: Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden«, raunte er. Dankbar nickte er seinem Jugendfreund zu. Der Sohn des Kürschners hatte ihn nicht vergessen.
Diego führte sie in eine lange, schattige Gasse, die an der Innenseite des Zwingers verlief. Der Weg führte an der Rückseite der schiefen, in die Straßen hineinragenden Fachwerkhäuser entlang. Sie gingen an niedrigen Ställen und Beeten vorbei, in denen unter einer dünnen Schneeschicht Lauchstangen und Kohlköpfe wuchsen. Es roch nach Abfällen. Handkarren, vereiste Besen und andere Gerätschaften lagerten an den Hausmauern. Bis auf einige neugierige Hunde, die sich mit einem Aufstampfen und einem lauten Wort vertreiben ließen, folgte ihnen niemand.
»Das Leben ist sehr viel schlechter, seit der alte Burgherr zurückgekehrt ist«, berichtete Diego. »Menschen verschwinden spurlos. Doch nicht alle lassen sich einschüchtern. Man muss nur wissen, in welchem Stadtviertel man sich bewegt. Auf der anderen Seite der Straße wohnen die Verräter, sagt meine Frau immer.«
»Du bist verheiratet? Ich wünschte, wir hätten Zeit, um miteinander zu reden«, keuchte Lucian, während sie über einen niedrigen Holzzaun stiegen. Der Weg glich nurmehr einem Trampelpfad. »Ich weiß kaum etwas über die Zeit, nachdem Velasco aus Carcassonne verschwand.«
»Nun, was aus dir geworden ist, sieht man ja«, gab der Jäger zurück. In Diegos Blick lag eine Mischung aus
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