Tore der Zeit: Roman (German Edition)
die Dauer des Zweikampfs ins Stocken geraten war, setzte wieder ein. Jemand zerrte an seiner Schulter, wollte ihn offenbar abführen, während eine andere vermummte Gestalt hastig die Bruchstücke seiner Klinge einsammelte – ein schamloser Dieb, dachte Lucian benommen und war drauf und dran, dem Frechling einen Tritt zu versetzen.
Schritte hallten unter dem Gewölbe, dann entbrannte Streit. Beliar und sein Vater gerieten aneinander. »Lass ihn laufen, verdammt noch mal!«, herrschte der Spielmacher den Schlossherrn an. »Lucian hat die Herausforderung bestanden. Er darf gehen, zusammen mit Ravenna! So lautet die Abmachung.«
Velasco hielt Lucian am Handgelenk fest, umklammerte den freien Arm mit eiserner Faust. Der andere Mann wollte ihn in Richtung Stadt ziehen, unter dem Torhaus hinaus. Jemand aus der Burgstadt, begriff Lucian verwirrt.
»Ich pisse auf unsere Abmachung!«, schäumte der Schlossherr. Seine Schwertspitze zitterte. »Was sich zwischen mir und meinem Sohn abspielt, geht niemanden etwas an.«
Beliar richtete sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe auf. Plötzlich wirkte er furchterregend. Es war, als käme sein wahres Gesicht zum Vorschein: makellos und wütend. Das Gesicht eines zornigen gefallenen Engels. Seine Augen waren vollständig schwarz, bis auf einen roten Funken Glut im Augenhintergrund.
»Du wirst mir gehorchen«, sagte er leise. »Sofort. Du lässt Lucian gehen.«
Velasco brüllte auf. Er war wahnsinnig oder versessen genug, um die Schwertklinge gegen den Teufel zu heben. Beliar grub die Finger in die Schulter des Schlossherrn.
»Helcræft« , raunte er. Sofort brach die wulstige Narbe an Velascos Hals auf. Rote Flüssigkeit tröpfelte hervor und rann in einem erschreckenden, gezackten Kreis herab. Ein Kragen aus Blut.
Velasco krächzte und griff nach seiner Kehle. Blut rann ihm über die Finger.
»Du scheinst zu vergessen, weshalb du mein Lehnsmann bist«, stellte Beliar im selben ruhigen Tonfall fest. »Und zwar wörtlich mit Leib und Leben. Dein Schloss, deinen magischen Kristall und sogar deine unnatürlich lange Verweildauer auf Erden verdankst du mir! Und deshalb …«
An dieser Stelle trat der Teufel einen Schritt zurück. Das zornige Leuchten in seinen Augen erlosch, und er verwandelte sich wieder in den glatzköpfigen Spielmacher. »Deshalb wirst du mir mit deiner dämlichen Rachsucht nicht den Ablauf meines Spiels ruinieren. Schließlich soll Ravenna eine Aufgabe für mich erledigen. Du wirst mir dabei nicht im Weg stehen!«
Mit dem Handrücken wischte sich Velasco über die Lippen. Sein Mund war blutverschmiert. Hasserfüllt zerrte er Lucian dicht zu sich heran, sodass sich ihre Atemzüge kreuzten. »Wir beide werden wieder zusammentreffen«, raunte er. »Ganz sicher wird das schon bald der Fall sein. Und dann kann dich selbst der Teufel nicht mehr vor mir schützen.«
Der Klammergriff um sein Handgelenk löste sich. Mit einem Stoß gab Velasco ihn frei. Von der anderen Seite zog jemand an ihm. Lucian geriet in Stolpern. Da war ein Mann, der ihn stützte, begriff er nach ein paar unsicheren Schritten. Ein Mann mit einem Hut und einer kessen Feder, derselbe Mann wie zuvor. Sein Begleiter hielt das Gesicht abgewandt und zog ihn über die Brücke und anschließend hinaus in die verschneite Stadt. Zu Lucians Verwirrung blieb der zierliche Dieb dicht bei ihnen und presste die Bruchstücke des Schwerts an die Brust.
Zwischen den Häusern konnte er endlich freier atmen. Auch die Menschen rings um sie gingen langsamer. Die meisten beachteten ihn und seine Begleiter kaum, sondern strebten hastig in ihre Wohnhäuser oder in die geöffneten Schänken, aufgewühlt von den Ereignissen des Morgens.
»Kopf runter, Lucian!«, raunte der Mann. Es war eine Stimme, die er seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört hatte. Eine freundliche Stimme, die nicht zu den Ereignissen im Schloss passte. Sein Begleiter warf ihm eine alte, schäbige Decke um die Schultern und zerrte sie zurecht, sodass sie das Kettenhemd und den weißen Mantel verdeckte.
»Senk den Blick, sage ich«, wiederholte der Mann. »Achte darauf, dass dir die Leute nicht ins Gesicht schauen. Du siehst deinem Vater einfach zu ähnlich. Wenn die Städter dich erkennen, lassen sie uns nicht mehr vorbei.«
Trotz der Warnung blieb Lucian stehen. »Diego?«
Der Mund unter der Krempe verzog sich zu einem breiten Lächeln. Sein Begleiter war wie ein Jäger gekleidet, mit einem Wams aus Fuchsfell, einem stabilen Gürtel und
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