Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition)
gewöhnlicher Schlaf. Vielmehr ein Dämmerzustand zwischen der einen und der anderen Welt. Ein Teil des Körpers suchte dabei stets die Ruhe und Gnade der Träume, der andere hingegen immer die rationelle Wirklichkeit des Verstandes. Die Kunst bestand darin, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Strömungen herzustellen und zu erhalten. Gelang dies nicht, so fiel der Verstand in tiefen Schlaf oder eben jener blieb versagt. Der Sinn dahinter bestand darin, weder das eine noch das andere Extrem voll zuzulassen. Der Schlaf der Schatten war eine Mischung aus verringerter Regeneration und verminderter Aufmerksamkeit. Man schlief nie völlig, doch war man auch nie richtig wach. Shachin beherrschte diese Technik und in Zeiten großer Not ließ sie sich auch darauf ein.
Es musste gegen Mittag sein, als sie den Schlaf der Schatten verließ. Genau konnte sie es in der Grotte hinter der Kapelle nicht sagen, doch die Art und Weise, wie die Schatten standen, legte die Vermutung nahe. Leise erhob sie sich von ihrem Lager. Nahezu übergangslos kreisten ihre Gedanken sofort wieder über den Meister im Kopf umher. Seine Kampftechniken, seine Bewegungen, all das hatte sie schon einmal gesehen, irgendwann, vor langer Zeit. Unter normalen Umständen, wenn die Zeit es zugelassen hätte, wäre sie schon noch dahinter gekommen, doch jetzt musste es schnell gehen. Das Wissen, wer ihr Gegner war, wie er dachte und handelte, war der Schlüssel für ihr Überleben. Aufgeben konnte er nicht und, da war sie sich sicher, wollte er auch nicht, nun da sein Kampfgefährte durch ihre Klinge umgekommen war.
Ein Pulver, Schwingen des Raben genannt, würde ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Ein Halluzinogen wie es früher auch die heidnischen Priester verwendet hatten, um in besonders denkwürdigen Momenten ihren Göttern nahe zu sein. Allein für den Besitz konnte man sie lange ins Gefängnis werfen, in manchen Gegenden des Reiches sogar straffrei aufknüpfen. Das Pulver war, wie fast alles der alten Religion, aus dem Alltag der Menschen verdammt worden. Ketzerin würde man sie schimpfen, wüssten die Heiligen und Frommen der Herrin von ihrem Besitz. Jene, die noch immer an den alten Gebräuchen und der alten Religion festhielten, wurden erbarmungslos gejagt und verfolgt. Tausende waren damals, vor mehreren Hundert Jahren, der so genannten Befreiung zum Opfer gefallen, und bis heute gingen die Erlöser der Herrin , wie sie sich selbst nannten, ohne Gnade gegen all jene vor, die sich nicht vom alten Glauben lossagen wollten. Als Zauberkünstler und Dämonenpaktierer wurden sie bezeichnet, und das allein war für viele Erlöser die Rechtfertigung zum Mord. In manchen Gegenden, so erzählte man sich, fielen sogar Kinder der Erlösung zum Opfer. Ein grausames Ritual, bei dem durch gewaltsamen Tod der Geist eines Menschen vom Körper getrennt wurde. Ob die Erlöser jemals soweit gegangen waren, konnte Shachin nicht sagen, doch schenkte sie Schauermärchen dieser Art keinen Glauben. Sicherlich war die Verfolgung der Unreinen , wie die Erlöser alle Menschen anderen Glaubens nannten, brutal und abscheulich, doch war die religiös motivierte Assimilation das eine, feiger Kindermord aber etwas ganz anderes.
Shachin gab eine Fingerspitze des Pulvers in einen mit Wasser gefüllten Tonkrug. Sofort begann das Wasser damit, Blasen zu werfen und wenige Augenblicke später stieg beißender Rauch auf. Shachin führte den Krug an ihr Gesicht und mit tiefen Atemzügen sog sie den Dampf in sich auf. Sie musste husten und im nächsten Augenblick einen Würgereflex unterdrücken. Die Schwingen des Raben waren heimtückisch und gefährlich. Eine falsche Dosierung des Pulvers oder fehlerhafte Atemtechnik konnte für Ungeübte und Laien den Tod bedeuten. Denen wiederum, die ihr Handwerk verstanden und wussten, worauf sie sich einließen, eröffneten die Schwingen Wege und Pfade in ungeahnte Dimensionen ihres Geistes. Dinge, die längst im Strudel der Zeit und den Abgründen des Verstandes vergessen geglaubt waren, traten wieder hervor. Shachin hatte sogar von Menschen gehört, denen Dank der Schwingen ein Blick in eine mögliche Zukunft offenbar wurde. Ihr selbst reichte ein Schritt in die Vergangenheit. Eine Reise zurück in ihre Kindheit.
Shachin konnte spüren, wie sich ihre Sinne schärften. Gestochen scharfe Konturen und glasklare Töne begannen damit, ein Bild zu zeichnen. Es war nicht mehr nur die diskrete
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