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Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition)

Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition)

Titel: Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Kohlmeyer
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Abhandlung einzelner Empfindungen, sondern die vollkommene Überlagerung verschiedenster Eindrücke. Es war, als betrete sie mit einem unbekannten, sechsten Sinn eine neue Dimension. Farben hatten plötzlich Geschmack und Töne wurden sichtbar. Unbeschreibliche Schönheit und überwältigende Klarheit trafen Shachin mit einer Wucht, die sie ins Straucheln brachte. Sie musste sich an einem Felsen abstützen. Langsam sank sie auf die Knie. Ihre Hände begannen zu zittern und Schweiß rann ihr über die Stirn. Sie wusste was nun kam. Es war nicht ihre erste Reise mit den Schwingen des Raben , doch bei weitem ihre schwierigste. Soweit zurück war sie noch nie gegangen, und soviel Pulver wie heute hatte sie noch nie genommen. Shachin war stark und ihr Körper wusste um die Wirkung des Gifts in ihrem Blut, und dennoch, sie hatte Angst. Alle Konzentration war nach innen gerichtet. Es begann ganz langsam. Vor ihrem geistigen Auge drehte sich die Zeit zurück. Erst in Tagen, Schritt für Schritt, dann in Wochen und schließlich in ganzen Monaten und Jahren. Aus kleinen Sprüngen wurden gewaltige, und die Bilder rasten. Sie musste sich noch stärker konzentrieren. Shachin wusste, wohin sie wollte, doch nicht, wann es soweit war. Fetzen aus ihrem Leben zogen wie der Wind an ihr vorbei. Momente aus der jüngeren Vergangenheit, Augenblicke ihrer Jugend und schließlich die Jahre der Ausbildung.
    Mit einem Schlag blieb die Zeit plötzlich stehen und ein Bild manifestierte sich. Shachins Augenlieder bebten vor Anstrengung und Konzentration. Sie sah sich um. Ein dunkler Ort, die Seiten vom Fackelschein erhellt. Undeutlich konnte sie zwei Schemen ausmachen, die sich am Rand ihres Blickfeldes unterhielten. Sie selbst bewegte sich rasch und nach einem festen, eingeübten Rhythmus. Ohne Zweifel eine Lehrstunde im Unterschlupf ihres Meisters. Plötzlich wurde sie abberufen und ging zur Seite, den Platz für einen der beiden Schemen freimachend. Der kleinere von beiden war ihr Meister, Shachin erkannte ihn sofort wieder, auch nach all den Jahren. Der andere war ihr unbekannt, doch irgendetwas an ihm störte sie. Der Unbekannte begann mit seinen Übungen, und kaum eine Sekunde später war Shachin plötzlich klar, was sie störte. Er war nicht von hier, gehörte nicht zur Schule. Seine Bewegungen folgten ganz anderen Schemata, auch wenn das Ergebnis dasselbe war. Er focht einen Schattenkampf.
          Nun wusste Shachin, dass sie alles richtig gemacht hatte. Die Dosis des Pulvers war perfekt gewesen. Vor ihr vollführte der Meister aus der Gasse in Leuenburg seine Techniken, und ihr Großmeister hatte die Aufgabe, ihn zu bewerten. Ihr Meister hob plötzlich die Hand. Etwas missfiel ihm. Der andere unterbrach seine Bewegungen und starrte sichtlich erzürnt auf den Großmeister. Shachin sah irritiert zu. Was war hier los? Der Fremde machte eine wegwerfende Handbewegung. Sein Blick war voller Hass. Dann wusste sie, wovon sie eben, und damals unwissentlich, Zeuge geworden war. Es war das Gesuch des Fremden, ein Großmeister zu werden. Ihr Meister beherrschte den Ruf der Eule , eine der zwölf Schattenkampftechniken. Um Großmeister werden zu können, musste man den Meistergrad in allen zwölf Klassen erreichen, und so wie es aussah, hatte der Fremde Pech. Er wurde abgewiesen. Der Ruf der Eule würde ihm nun auf ewig verwehrt bleiben.
    Ein jäher Schmerz durchbrach plötzlich das Bild und die Schemen verzerrten sich zu hässlichen Fratzen. Nichts war mehr vergangene Wirklichkeit, keine alte Realität. Chaos und Unordnung übernahmen die Herrschaft, und die gesamte Szenerie wandelte sich in ein Abbild des Todes. Die Wirkung des Pulvers war erschöpft und die Rückkehr in das Hier und Jetzt setzte sofort und äußerst schmerzhaft ein. Der Geist wurde ohne Vorwarnung regelrecht zurückgerissen. Shachin öffnete die Augen, sie atmete schwer. Noch immer kniete sie, die eine Hand auf dem Felsen ruhend, in der Grotte. Nun wusste sie Bescheid. Sie schätzte, dass es ihr fünfzehnter Winter gewesen war, als der Meister des schwarzen Skorpions darum gebeten hatte, den Ruf der Eule erlernen zu dürfen. Ihr war nicht klar warum, doch hatte der Großmeister diesem Wunsch nicht entsprochen. Wenn dem auch bis heute noch so war, dann musste sie ihrem alten Großmeister wahrscheinlich im Nachhinein noch dankbar sein. Der Ruf der Eule würde die Antwort auf den Stil ihres Gegners sein. Mit ein wenig Glück rechnete er nicht mit dieser, zugegeben etwas

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