Tore nach Thulien 1 : Dunkle Gassen (German Edition)
Münzen hatte sie noch, und nachdem sich der Magen seit ihrem Ausflug auf den Schwingen des Raben immer öfter meldete, beschloss sie, sich etwas zu essen zu suchen.
Leuenburg war in fünf Viertel aufgeteilt. Im Zentrum befand sich der Alte Markt mit der Herzogburg, dem Magistrat und dem Zunfthaus. Hier lebten allen voran die oberen einhundert der Gesellschaft. Das Scherbenviertel mit dem Dom der Herrin samt angeschlossenem Kloster lag im Süden der Stadt. Ein eher ruhiger Teil, der von vielen Gläubigen und Frommen besucht und den Mönchen als Heimstatt diente. Sieben Schänken im Osten war der Sündenpfuhl Leuenburgs. Kaschemmen, Bordelle und zwielichtige Krämer gaben sich dort die Klinke in die Hand. Das Viertel zog Gesindel aller Art an wie die Motten das Licht. Nur wenige der ehrbaren Bürger kamen dorthin, und wenn, waren es meist die männlichen Vertreter auf der Suche nach der käuflichen Liebe. Fuhrheim lag im Westen Leuenburgs. Handwerker und Händler hatten sich dort niedergelassen und die Nähe zum Treidelhafen an der Leue sorgte für viel Betriebsamkeit. Das letzte Viertel lag außerhalb der Stadt, der Treidelhafen. Leuenburg war etwas abseits des großen nördlichen Stromes errichtet worden, und die Hafenanlagen befanden sich etwa zwei Kilometer nordwestlich der Stadt. Außer einer kleinen Lokalität war dort nichts Interessantes zu finden. Schiffe, die die Leue hinaufkamen wurden gelöscht oder beladen. Der Treidelhafen war geprägt von kleinen Zwischenlagerhäusern und vielen Fuhrwerken. Am Tag hektische Geschäftigkeit, am Abend beinahe ausgestorben. Jeder war bestrebt, seine Waren bis zum Einbruch der Nacht in Leuenburg zu wissen. Der Hafen war nicht sonderlich gut bewacht, und außer einem kleinen Wehrturm gab es dort keinerlei Festungswerke.
Shachin entschied sich für den Alten Markt . Im Zentrum der Stadt pulsierte das Leben und Menschen aller Stände kamen dort zusammen. Das Viertel verdankte seinen Namen dem Wochenmarkt, der immer am Erlösertag seine Pforten öffnete. Arme und Reiche, Fromme und Verruchte kamen dorthin. Für jeden war etwas dabei und Geschäfte machte man am besten hier. Die Händler und Handwerker aus Fuhrheim boten ihre Waren und Erzeugnisse feil, Schiffskapitäne riefen die nächste Heuer aus und die Bauern der Umgebung brachten ihre Milch- und Fleischprodukte an den Mann.
Es war Nachmittag, als Shachin am Wochenmarkt ankam. Die kleinen Gässchen zwischen den Ständen waren mit Leuten überfüllt. Ein Gedränge sondergleichen. Von überall her priesen die Marktschreier ihre Waren an. Ob Kleidung, Fleisch oder Fisch, ob Waffen, Rüstungen oder Schreinersachen, für jeden war etwas dabei. Shachin schlenderte ein paar Runden über den Markt und suchte sich anschließend etwas zu essen. Einfache Kost, aber schmackhaft. Obgleich das Wetter schlechter und der Regen stärker wurde, waren die Straßen und Gassen voll. Shachin hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und das Cape um die Taille geschlungen. Der Wind blies von Westen durch die Stadt und brachte noch mehr dunkle Wolken auf seinen Schwingen mit. Irgendwann wurde es ihr schließlich zu viel und sie suchte sich einen Unterstand. Unter einem Arkadengang am Rande des Marktplatzes fand sie ein trockenes Plätzchen. Auch hier schoben sich die Leute dicht gedrängt vorbei, aber wenigstens war sie vor dem Regen geschützt. Shachin klopfte sich die Regentropfen von ihrem gut geölten Cape und zog die Kapuze herunter. Ein wenig Luft und ein besseres Blickfeld würden sicher nicht schaden.
Shachin merkte auf. Auf den ersten Blick war alles normal. Die Leute gingen ihren Dingen nach und keiner schien Notiz von ihr zu nehmen. Sie war eine von vielen in der Masse und quasi unsichtbar. Und dennoch, etwas stimmte nicht. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Sämtliche Alarmsignale, zu denen sie Dank ihrer Ausbildung fähig war, meldeten sich. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in ihr breit. War Er hier? Sofort trat sie einen Schritt zurück und verbarg sich hinter einer der Säulen. Jemand war hier, und dieser Jemand beobachtete sie. Ob es der Meister war, konnte sie nicht sagen. Noch nicht. Ihre Augen flogen über die Menge. Der Regen hatte noch mal zugenommen und einem dünnen Schleier gleich legte er sich nach wenigen Metern über das Blickfeld. Es musste schon an Zauberei grenzen, sollte er sie durch den Regen hindurch sehen können. Der Beobachter war in ihrer Nähe! Die
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