Torstraße 1
Auch Wilhelm schien die Idee zu gefallen, doch er zögerte und meinte, dass seine Frau sich noch nicht wieder gut fühle und etwas Zeit brauche. Sie würden sich aber bestimmt bald treffen – auch er habe sich oft gefragt, was aus ihr und der Kleinen geworden ist, und sei nun sehr froh zu hören, dass es ihnen gut geht. Ob sie denn das bei der Eröffnung Verlorene wiedergefunden habe? »Etwas tausendmal Besseres!«, hat sie gerufen. »Einen Bruder für Elsa und eine Familie für die Kleine und mich!«Das Kreditkaufhaus Jonass leuchtet. Auch das Jonass beteiligt sich an der Lichtwoche im Oktober, wenn nach Einbruch der Dämmerung viele Fassaden festlich beleuchtet werden. Hunderttausende sind unterwegs, aus den Vororten und aus dem Umland angereist, und drehen eine abendliche Runde durch die Stadt, um vom Funkeln und Blinken der Elektrobirnen etwas auf sich abstrahlen zu lassen. Der große Strom der Flaneure ergießt sich in den Westen und bestaunt den illuminierten Ku’damm und »das KaDeWe in Licht und Schönheit«. Doch für die Bewohner des armen Ostens ist auch das strahlende Jonass eine Sensation.
Harry hat für das Spektakel keinen Blick, als er sich dem Büro seines Vaters nähert.
»Mein lieber Sohn«, sagt Heinrich Grünberg zur Begrüßung, »es ist mir ein Rätsel, wo du all dein gutes Geld lässt. Mein gutes Geld.« Er klopft mit dem Füllfederhalter auf die Schreibunterlage. »Wenn du später diese Firma führen willst, musst du lernen, mit deinem Budget zu haushalten. Oder meinst du, es wäre zu knapp bemessen für einen Studenten, der im elterlichen Heim versorgt wird?«
»Nein, Vater, bestimmt nicht. Es ist nur so, dass ich … Ich hatte unvorhergesehene Ausgaben in letzter Zeit.« Harry blickt zu Boden. »Schreib einfach alles an, du kannst es mir später vom Gehalt abziehen. Oder vom Erbe. Du bekommst jeden Pfennig zurück.«
»Vom Erbe wohl kaum, mein Lieber.« Heinrich Grünberg holt ein paar Scheine aus der Schublade seines Schreibtischs. »Es ist das letzte Mal, ich meine es ernst.«
»Danke, Vater.«
»Meine Güte, so oft, wie du mich heute Vater nennst, könnte man meinen, dass du diesen Abend noch schlimme Dinge vorhast. Ich hoffe, du treibst dich nicht wieder in den Spelunken in der Mulackstraße herum, wo das Gesindel …«
»Meinst du die Ganoven, die Kommunisten oder die Juden?«
»Kommt bei den Ostjuden ganz aufs selbe hinaus.«
Harry hat nicht vorgehabt, heute in die Mulakei zu gehen, aber sein Vater hat ihn auf die Idee gebracht. Obwohl er sich auf der Mulackstraße schnell einen schäbigen Mantel über das Jackett gezogen hat, wird er vor der Kneipe »Zum seligen Absturz« von Proleten angepöbelt. Auch die Juden in der Grenadierstraße erkennen nicht den Bruder in ihm. Kein Wunder, er kann nicht einmal die hebräischen Inschriften über den Läden lesen. Schon besser versteht er das Jiddisch, das man hier überall hört, in den Kellergeschäften, den koscheren Speisestuben, Schneiderwerkstätten und Buchläden. Ein paarmal ist er ins Jiddische Theater in der Almstadt 5 gegangen, um den Klang der Sprache zu hören. Zu Hause hat er versucht, ihre Melodie auf der Trompete nachzuspielen, bis seine Mutter hereinkam und fragte, ob sie ihm irgendwie helfen könne.
Ein seltsamer Singsang hallt in den engen Gassen wider, die Leute weichen zur Seite. Männer in schwarzen Kaftanen und Hüten, mit langen Bärten und Schläfenlocken ziehen vorbei, das Gefolge eines chassidischen Rebbe. Man sollte nicht glauben, denkt Harry, dass das hier Berlin ist, die Hauptstadt des Deutschen Reiches. Kein Wunder, dass sich Leute wie sein Vater vor den Ostjuden fürchten. Und er, ehrlich gesagt, auch ein wenig. Auch diesmal wagt er sich nicht in eine der Betstuben, als er am »Radomsker« und »Polcsker Stibel« vorbeigeht. In einem der Trödlerläden, die vom Salzstreuer bis zum Gebetsschal alles führen, was einmal ein Mensch gebraucht hat und ein anderer brauchen könnte, ersteht er eine Grammofonplatte mit »koscherer Musik«, wie er die liturgischen Gesänge der Kantoren nennt. Die will er Vicky und Elsa gleich einmal vorspielen. Wenn Vicky auch die Jazztrompeten vorzieht, hat vielleicht seine halbjüdische Tochter ein Ohr für Tradition.Den Weg zum Kino »Babylon« rennt Vicky fast vor Freude, endlich wieder einmal einen Abend mit Harry auszugehen. Doch ob es richtig war, ihre Kleine bei der Nachbarin zu lassen? »Geh, Mejdele, zu dein Jungerman«, hat die alte Chaja gesagt und auf die
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