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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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schlafende Elsa gedeutet, »Kindchen schläft wie Engel.« Dann mit erhobenem Zeigefinger: »Komm ja vor Mitternacht ahejm!«
    Das neue Kino am Bülowplatz ist richtig schick geworden. Vicky nimmt einen Sitz auf der Empore und blickt in den großen Saal, auf die Köpfe Hunderter Zuschauer. Ihr Herz schlägt schneller, als sie Harry vor der Bühne am Klavier sitzen sieht. Der Saal hat sich gefüllt, Harry beginnt zu spielen. Der Vorhang vor der Leinwand öffnet sich. Vicky muss heulen, als die schöne blonde Stascha von Karoff erschossen wird, und der arme Henri, der ihretwegen Familie und Reichtum hätte sausen lassen, allein zurückbleibt. Vielleicht heult sie auch, weil nicht Harry neben ihr sitzt, sondern ein dicker Glatzkopf, der laut von der Dietrich schwärmt, aus der würde noch was. Weil sie alleine zum Kino gehen musste, statt Hand in Hand mit Harry, und ihn nach dem Film erst draußen um die Ecke wiedertreffen darf. Wenn er sich erst vom Schreck erholt hat, endlich erwachsen wird – dann wird alles wieder wie früher, oder nicht?
    Der Platzanweiser zählt Harry nach der Vorstellung das Geld auf den Tisch. »Jut jespielt, junger Mann. Aber wat machense nu, wo die Stummfilme bald abjeschafft wern? Da stehnse mit den braunen Samtjacken vom Ufa-Palast in der Schlange zum Stempeln, wa?« Er reicht Harry ein Glas Schnaps. »Jeht aufs Haus!«
    Ein kühler Wind bläst, es hat zu regnen begonnen. Vicky und Harry flüchten sich in einen Hofdurchgang. Er knöpft ihr langsam, Knopf für Knopf, den Mantel auf. Darunter trägt sie ein knielanges grünes Kleid und Seidenstrümpfe, einen Riss am Oberschenkel hat sie genäht. Die Schuhe mit den halbhohen Absätzen sind dieselben, die sie getragen hat, als sie Harry zumersten Mal begegnet ist. Vor zwei Jahren, als sie brandneu in Berlin war und er noch sein letztes Schuljahr vor sich hatte. Das hat er ihr aber erst später verraten, an dem Abend im »Mond über Soho« gab er sich als Musiker aus. Spielte Trompete in der Jazzband, während seine Eltern glaubten, er würde in der Schule für Klavierkonzerte üben. Als die Band zu Ende gespielt hatte, wurden Platten aufgelegt, und während die anderen Musiker zur Bar stürzten, ist Harry durch das Gewühl der Tanzenden geradewegs auf sie zugesteuert. Es gab keinen Fluchtweg, so dicht, wie die Leute die Tanzfläche umringten. In Lübbenau hatte sie Walzer gelernt, ein Gehopse wie dieses im Leben nicht gesehen. Sie hat nur heftig den Kopf geschüttelt, als er sie an sich zog, und dann, weil es nun doch nichts mehr half, mit dem Schütteln einfach weitergemacht. Vom Kopf über die Hüften und die Knie bis in die Zehen, ein Tanz nach dem anderen. Danach war ihr so schwindlig, dass sich Harrys verzerrtes Gesicht vor ihr drehte, als sie an der Wand lehnte und seine Lippen sich näherten. Er sah so komisch aus, dass es sie noch einmal schüttelte, diesmal vor Lachen, bis sie kraftlos auf einen Stuhl sank, den ihr irgendwer unter den Hintern schob. Erst Stunden später konnte sie Harry dazu bringen, es mit dem Küssen noch einmal zu versuchen.
    »Was machen wir jetzt mit dieser angebrochenen Nacht, Darling?« Harry zieht die frierende Vicky an sich.
    Sie klopft auf ihre Tasche, in der Harrys Lohn des Abends steckt. »Wir verjubeln unser Geld im Mond.«
    Hinter der nächsten Ecke steigen sie die Stufen hinab bis zur rostigen Kellertür. Der strenge Blick durch die Türklappe verwandelt sich in ein Grinsen. »Ihr mal wieder! Kommt rein.«
    Im »Mond über Soho« legt sie Harry die Arme um den Hals, schließt die Augen. Sie drehen sich zur Musik, bald dreht sich der Rest der Welt mit, nicht so ohnmächtig-schwindlig wie beim ersten Mal, sondern bloß wie vor Glück beschwipst. In einerschummrigen Ecke lassen sie sich auf ein Sofa fallen. Harry holt zwei Drinks von der Bar.
    »Ich darf doch noch nicht«, sagt Vicky und fügt hinzu, weil Harry sie verständnislos ansieht, »wegen der Milch.«
    Darüber müssen beide so lachen, dass sie prustend auf das Sofa sinken. Das Zeug brennt wie Feuer in Vickys Kehle, sie hat den Geschmack ganz vergessen. Harry beginnt ihren Hals mit kleinen Küssen und Bissen zu bedecken. Oh, ihr Hals liebt diese Küsse – fatal nur, dass man auch davon später ganz blau wird. Sie denkt an den nächsten Arbeitstag, an dem sie nicht mit einem Schal im Kaufhaus stehen will, und schiebt Harry von sich.
    »Hol Zigaretten«, sagt sie, die Zunge stolpert. Auch den Rauch in der Kehle hat sie vergessen, die wundgetanzten

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