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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Füße. Die Schwerelosigkeit nach einer Nacht mit mehr Liebe als Schlaf. Frauen und Männer drehen sich tanzend an ihr vorbei, der Kronleuchter dreht sich, das vergangene Jahr kommt Vicky vor wie Verbannung.
    Harry ist noch nicht zurück mit den Zigaretten, da bleibt jemand vor ihr stehen. Gerald, ein Studienfreund von Harry. »Vicky! Dich hab ich ewig nicht gesehen! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
    »Sibirien.«
    Gerald schaut dumm. »Und was macht Harry?«
    Sie sieht Harry kommen, triumphierend schwenkt er Zigaretten und eine Zigarettenspitze in der Hand. Als er Gerald mit Vicky sprechen sieht, verschwindet sein Lächeln. Laut sagt sie zu Gerald, sodass Harry es hört: »Harry hab ich zufällig hier getroffen.«
    Endlich ist Gerald fort, und auch die anderen sind gegangen. Harry und Vicky liegen auf dem Sofa. Der Riss in der geflickten Strumpfhose lässt sich bestimmt nicht noch einmal nähen. Die Wirtin putzt die Theke und singt »Das ist der verdammte Fühlst-du-mein-Herz-schlagen-Text«.Schon auf der Straße hören sie das Geschrei. Vicky macht sich von Harry los und rast die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Chaja öffnet mit rot geränderten Augen und drückt ihr das schreiende Kind in die Arme. »Kind stirbt vor Hunger!«, zischt sie und schlägt die Tür hinter sich zu. Und Vicky schlägt sie vor Harry zu.
    Harry macht sich auf den Heimweg und geht zu Fuß zum Alexanderplatz. Es ist noch dunkel, viele Arbeiter sind auf dem Weg in ihre Fabriken. Der ganze Alex ist aufgebuddelt, die Eingeweide liegen offen, dort, wo die neue Untergrundbahn entsteht. Harry bahnt sich einen Weg zwischen den Bretterzäunen, balanciert über Holzbohlen. Auch wenn ihn das Ende dieser Nacht ernüchtert hat, muss er höllisch aufpassen, hier nicht vom Weg abzukommen. Vor allem, wenn einem auf diesen Bohlen jemand entgegenkommt. Die zottige Gestalt, die sich im Morgengrauen nähert, sieht aus wie Nosferatu. Harry stolpert, stürzt beinahe in eine der Gruben, Nosferatu stößt ein Gelächter aus. »So gehen wir alle zugrunde«, krächzt er, »Asche zu Asche, Kohle zu Kohle und Staub zu Staub!«
    Fluchend rappelt Harry sich auf. Statt den schäbigen Mantel überzuziehen, hat er sich auch noch sein Stummfilmmusiker-Jackett versaut. »Aber wat solls, juter Mann«, sagt er zu sich selbst, »wo die Stummfilme sowieso bald abjeschafft wern.« In der S-Bahn nach Lichterfelde schlägt er die druckfrische Morgenzeitung auf. »Kollaps an Amerikas Börse. Panik erreicht Europa.«
    Seit dem Börsensturz vor gut anderthalb Jahren sind die Arbeitslosenzahlen stetig gestiegen. Viele kleine Läden mussten schließen, manches Warenhaus ist in Schwierigkeiten geraten. Auch am Kaufhaus Jonass ist die Wirtschaftskrise nicht spurlos vorbeigegangen. Doch nach wie vor kaufen die kleinen Leute der umliegenden Viertel im Jonass auf Pump, und seit demSchwarzen Freitag kommen selbst wohlhabendere Bürger. Wer gar nichts hat, bekommt auch hier nichts geschenkt. Ein Viertel des Kaufpreises muss angezahlt werden, danach wird in Raten abgestottert.
    An den Kassen mit der Kaufscheinausgabe, von Elsie Pumpstation genannt, hat sich eine lange Schlange gebildet. Vicky arbeitet nur aushilfsweise an der Kasse, sonst als Verkäuferin in der Damenmode. Sie selbst hat nach Elsas Geburt um Versetzung gebeten. Als Stenotypistin hätte sie sich das Vorzimmer von Grünbergs Büro mit Frau Kurz teilen müssen, und Gerd Helbig ging dort neuerdings als Verkaufsleiter beim Chef ein und aus. Offenbar hatte er den ersten Schock über das uneheliche Kind seiner Angebeteten überwunden, denn er warf ihr gelegentlich wieder schmachtende Blicke zu. Sofern man das durch seine dicken Brillengläser hindurch erkennen konnte. Dann war da noch Harry, der neben dem Wirtschaftsstudium in die Praxis der Warenhausführung eingewiesen wurde. Wie hätte sie da in Ruhe arbeiten sollen. Zuerst war Heinrich Grünberg skeptisch gewesen, aber sie hatte ihr Talent als Verkäuferin schnell bewiesen.
    Ohne die alte Chaja wäre sie vielleicht schon aus der Mendelssohnstraße weggezogen, in ein ruhigeres Viertel. Immerhin hat sie ihr kleines Verkäuferinnengehalt, und Harry steuert monatlich bei, so viel er kann. Aber die Nachbarin passt seit ihrer Geburt auf Elsa auf und ist für sie Oma Chaja geworden. Drei Tage in der Woche nimmt sie die Kleine, wenn Vicky im Jonass arbeitet, und verlangt nicht viel dafür. Manchmal denkt Elsa, Chaja macht es schon allein deshalb gerne, um an drei Tagen ihrer dunklen

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