Torstraße 1
Kellerwohnung zu entkommen. Wenn Chaja am Tisch sitzt, kann sie durch das schmale Fenster die Schuhe und Stiefel vorbeilaufen sehen. So ist sie immer im Bilde über den Lauf der Welt, hat sie gesagt. Jahreszeiten, wirtschaftliche und politische Wetterlage, alles kann man am Schuhwerk seiner Mitmenschenablesen. Einmal hatte Chaja ausgiebig Zeit dazu. Sie lag zwei Wochen krank in ihrer Wohnküche auf dem Schlafsofa und wachte auf, als vor ihrem Fenster zwei Stiefelpaare in Streit gerieten. Sie traten so lange nacheinander, bis einer der Stiefel in die Scheibe traf. Die Scherben fielen, glänzend im Licht der Straßenlaternen, wie Eisstücke auf Chajas Küchenboden.
Dass Vicky von ihrer Wohnung zu Fuß zur Arbeit gehen kann, ist auch ein Vorteil. Aber die Straßen um den Bülowplatz sind immer mehr zum Kampfgebiet zwischen Kommunisten und SA geworden. Arm sind alle, die in dem Viertel wohnen, nur glauben sie an unterschiedliche Schuldige und Retter. In den Hinterhöfen hängen rote Fahnen aus den Fenstern, viele mit Hammer und Sichel, einige mit Hakenkreuz. Elsa liebt es, wenn die Fahnen im Wind flattern, sie macht keinen Unterschied. An einer Hauswand steht in weißen Buchstaben »Hier verkommen unsere Kinder!«
Eines Tages kommt Vicky von der Arbeit, und Chaja hat einen Verband um den Kopf. Man sieht rote Flecken, wo das Blut durchgesickert ist. »Wenn se nu das Mejdele getroffen hätten«, sagt Chaja immer wieder und kann sich gar nicht beruhigen. Endlich entlockt Vicky ihr, dass sie zufällig in eine Straßenschlacht geraten ist und einen Stein an den Kopf bekommen hat. Als Vicky später Harry in der kleinen Küche davon berichtet, sagt er: »Du musst hier weg, Liebling. Das ist kein Ort für unser Kind.«
Vicky zündet den Gasring an und stellt einen Topf auf den Herd, während sich Elsa an ihre Beine klammert. »Ich wüsste da eine hübsche Villa in Lichterfelde. Da wär bestimmt noch Platz für uns zwei.«
Missmutig wirft Harry einen Blick in den Kochtopf. »Fang doch nicht wieder damit an. Im Gegenteil, es wird höchste Zeit, dass ich dort ausziehe. Hätte ich längst getan, wenn ich nicht diese Bruchbude mit unterhalten müsste.«
Vicky rührt im Topf, dass der Löffel ans Metall schlägt. »Ach ja? Dann miete stattdessen eine eigene Bude – für mich und unser Kind gleich mit.«
»Lass mich erst mein Studium zu Ende bringen.« Er probiert einen Löffel und verzieht das Gesicht. »Gibt es hier zufällig noch irgendetwas anderes als Grießbrei?«
Vier Kerzen sind auf dem Kuchen, zwei für Elsa und zwei für Bernhard. Beide beugen sich so weit über den Tisch, dass ihre Köpfe fast zusammenstoßen. Sie pusten, so fest sie können. Die Flammen erlöschen, Rauch steigt auf, rund um den Tisch wird applaudiert. Bernhard und Elsa glühen vor Stolz. Es ist ihre erste gemeinsame Geburtstagsfeier.
Viel Platz haben die Glasers in der Hinterhofwohnung auch nicht, aber eine große Wohnküche mit einem langen Esstisch. Die Junisonne fällt auf das blitzende Kaffeeservice aus dem Kaufhaus Jonass. Wie gewöhnlich hat Martha sie ein wenig befangen begrüßt. Vicky weiß nicht, ob das noch immer davon herrührt, dass Wilhelm bei Elsas Geburt dabei war. Es hat lange gedauert, bis Martha zu einem Familientreffen mit ihr und Elsa bereit war. Doch dann haben die beiden Kinder ihr keine Wahl gelassen. Nach dem ersten Beschnuppern spielten sie so begeistert miteinander, dass sie nur unter Tränen zu trennen waren. Und natürlich mussten sie sich wiedersehen.
Selten hat Vicky Martha fröhlich erlebt, im Kreis der Familie scheint sie aufzublühen. Als die versammelten Gäste den Geburtstagskindern ein Ständchen bringen, singt Martha laut mit. Sie hat eine schöne Stimme, voll und tragend.
Elsa und Bernhard wissen gar nicht, womit sie anfangen sollen bei all den Herrlichkeiten, die sie geschenkt bekommen haben. Sie setzen die von Martha genähten Puppen vor das Puppengeschirr, das Vicky bei Jonass erstanden hat, und Wilhelms selbst gebaute Holzboote transportieren die Knöpfe heran,die ihnen auf die Teller gelegt werden. Elsa hat eine kleine Puppenfamilie aufgebaut. Die Puppe im Kleid ist Mama, die beiden kleinen sind »Elsa und Belnat«. Bernhard zeigt auf eine größere Puppe, die Hosen und Jacke trägt. »Alli«, sagt Elsa, ohne zu zögern.
»Alli? Wer ist denn Alli?«, ruft Charlotte. Die Erwachsenen horchen auf und wenden Elsa die Köpfe zu.
»Mann«, erklärt Elsa. »Alli.«
Vicky ist blass geworden. »Ach, sie meint
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