Torstraße 1
Ruhe zusammenzuschlagen. Das Keglerheim in der Petersburger soll so ein Ort sein, wo Wessels SA sich auf diese Art belustigt.
Die Geschäfte sind noch offen. Wilhelm erinnert sich, dass er ein abgelagertes Brot kaufen muss, und geht zum Bäcker. Er nimmt noch vier Schrippen für zehn Pfennig dazu und schleppt Arno zum Grünkramhändler, um einen Kohl zu kaufen. Nun hat er alles erledigt, was Martha ihm aufgetragen hat, und noch immer von Arno keine Antwort bekommen. Am Kaufhaus Union müssen sie umkehren, um die Einkäufe rechtzeitig bei Martha abliefern zu können. Arno legt seine rechte Hand auf Wilhelms Schulter und tätschelt die, als müsse er seinen Freund trösten.
»Ich hab schon eine andere Lösung«, sagt er. »Aber danke, das werd ich dir nicht vergessen. Und nun frag nicht weiter. Grüß Martha und die Kinder von mir.« Er geht in die andere Richtung davon und ist schon bald aus Wilhelms Blickfeld verschwunden.
Als Wilhelm nach Hause kommt, ist Martha außer sich. Der Kleine fiebert sich in schreckliche Höhen, selbst die kalten Wadenwickel helfen nicht. Charlotte und Bernhard stehen in der Küche und halten sich an den Händen. Wilhelm sieht sich den Jungen an, entscheidet, dass er ins Krankenhaus muss. Martha bringt die beiden Großen zur Schulzen und wickelt den kleinen Arno in eine Decke. Dann laufen sie los, zum Krankenhaus, dasjetzt Horst-Wessel-Krankenhaus heißt, wie der ganze Bezirk inzwischen nach diesem Mann benannt ist. Wilhelm geht das nicht über die Lippen. Für ihn bleibt das hier Berlin-Ost, und der Bezirk heißt Friedrichshain. Sie wohnen jetzt im Braunen Weg, der mal der Grüne Weg war, dagegen kann man nichts tun. Aber es ist eine Schande. Daran denkt Wilhelm, obwohl es in diesem Augenblick so unwichtig ist.
Im Krankenhaus sitzen sie drei Stunden zwischen den anderen Menschen, bevor sich jemand um Arno kümmern kann, und das Warten macht die Angst nicht kleiner. Spät in der Nacht erst kommt ein Arzt, um ihnen zu sagen, dass der Junge eine Hirnhautentzündung habe. Man werde ihn im Krankenhaus behalten und sehen, was man tun könne. Der Zustand sei bedenklich.
»Kommen Sie morgen wieder«, sagt der Arzt und schaut Martha an. »Hier können Sie jetzt gar nichts tun.«
So schleichen sie nach Hause und machen sich einen weiten Weg. In ihrer Wohnung wird ein leeres Kinderbettchen warten.
Zu Hause gehen sie gleich ins Bett und legen sich eng aneinander. Wilhelm schiebt seine Hand unter Marthas Haar, das dunkel und lockig über das weiße Kissen fällt. In der stillen Stube neben Martha, die leise vor sich hin weint, denkt Wilhelm, dass er heute vielleicht beide Arnos verloren hat. Es ist Sonntag, aber es wird kein guter Tag werden.
»Auf Wiederseh’n mein Fräulein, auf Wiederseh’n mein Herr«
Auf dem Dach wehen Hakenkreuz-Fahnen im Wind. Die großen Buchstaben über dem Portal, JONASS & CO, sind abmontiert. Verlassen ist das Restaurant auf dem Dach, verstummt sind das Klappern von Tellern und Besteck, das Gelächter der Gäste. Die hellen Markisen über den Schaufenstern im Erdgeschoss sind abgenommen, die Schaufenster nichts als verdunkelte Scheiben, in denen es nichts mehr zu schauen gibt. Kleider und Hüte, Lampen, Porzellan und Federbetten werden im neuen Haus am Alexanderplatz verkauft, hier dagegen stellen jetzt die neuen Machthaber von Zeit zu Zeit ihre neue Weltanschauung aus.
Vicky hat sie nicht besucht, die Ausstellung »Der Osten – Das deutsche Schicksal«, von Reichsminister Frick und Reichsleiter Rosenberg persönlich eröffnet, auch keine der folgenden Ausstellungen. Wo man zuvor die Mode der Saison bewunderte, kann man nun über Schautafeln staunen, die gegen Juden hetzen, gegen »entartete« Kunst und Musik, ja selbst gegen jüdisch-kapitalistische Warenhäuser. Und das in einem Haus, das noch immer zu Teilen einer jüdischen Familie gehört und dem Vater ihres Kindes. Allein die Ankündigungsplakate bringen sie zum Weinen. Doch das darf er nicht sehen, der Mann, der nun im Jonass die Geschäfte führt. Ihr Mann.
»Ich muss ins Haus, mein Mann kommt jeden Moment zurück«, sagt Vicky über den Gartenzaun zur Nachbarin. »Noch kein Abendessen auf dem Tisch, Sie wissen ja …«
Frau Schmitter lächelt. »Natürlich, die Männer. Wenn Sie etwas brauchen, Mehl, Eier … Sie können jederzeit klingeln.«
Vicky bedankt sich und denkt daran, was sie gestern ebendiese Frau Schmitter zu einer anderen Nachbarin hat sagen hören. Die beiden hielten, mit
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