Torstraße 1
keinen Bernhard. Das ist eigentlich das Blödeste an ihrem Umzug, dass sie Bernhard kaum noch sieht. Und Oma Chaja. Da, wo sie jetzt wohnen, ist zwar auch noch Berlin, aber es ist Hunderte Straßen weit weg von ihrem alten Haus. Alles sieht ganz anders aus. So sauber und grün und still. Vielleicht ist Steglitz doch eine andere Stadt, und sie haben’s ihr nur nicht gesagt. Aber wenn Chaja im Himmel ist, dann ist die neue Wohnung auch nicht weiter von ihr weg als die alte, oder? Ob auch Bobby jetzt im Himmel ist? Der Gorilla aus dem Zoo, der so gefährlich war, dass kein Pfleger ihm helfen konnte. Komisch, dass so ein Riesengorilla an einer Blinddarmentzündung stirbt. Ob es einen Himmel für Menschen und einen für Tiere gibt? Oma Chaja wäre bestimmt nicht gern mit Bobby im gleichen Himmel. Und einen Himmel für Deutsche und einen für Juden? Das wär aber schlimm, wenn sie mal tot ist und sich entscheiden muss, ob sie zu Chaja kommt oder zu Mama und Bernhard. Sie dreht sich auf den Bauch und malt noch eine Oma und einen Gorilla in den Garten hinter dem Haus und um den Gorilla einenZaun. Ihre neue Wohnung ist jedenfalls viel größer und schöner als die alte. Jetzt hat sie ein eigenes Zimmer und einen Schrank voller Kleider und ein Regal mit Spielsachen und so viele Farben und Stifte, wie sie will. Wenn bloß Bernhard nicht so weit weg wohnen würde! Dann könnten sie in die gleiche Schule gehen. Aber vielleicht spielt der jetzt sowieso lieber mit Kalle und den neuen Freunden? Vielleicht will der bald gar nichts mehr von ihr wissen, weil sie ein Mädchen ist. Sie reißt das bemalte Blatt vom Zeichenblock, zerknüllt es und pfeffert es in die Ecke.
Vicky fährt mit der Bahn in die Stadt, um Elsie zu treffen. Seit Monaten meidet sie die Kreuzung Lothringer Straße und Prenzlauer Allee. Der Anblick des großen, geschwungenen Gebäudes löst kein Hochgefühl mehr in ihr aus. Das Jonass steht so gut wie leer, der Verkauf ist in das neue Alexanderhaus am Alex verlagert. Noch sind Grünbergs die Inhaber, doch ohne ihren Geschäftsführer können sie keinen Finger mehr rühren. Der Geschäftsführer, erinnert sich Vicky, ist jetzt dein Ehemann. Der Vater deines Kindes. Zum Glück ist Elsas Adoption endlich durch. Wie die Beamten sie malträtiert haben. In Gegenwart ihres Mannes musste sie beschwören, dass Elsas leiblicher Vater tatsächlich unbekannt ist. Nein, sie könne sich nicht erinnern, sie habe Kummer gehabt an dem Abend, sei ausgegangen, habe sich betrunken. Mehr wisse sie nicht. Da hieß es, das würde noch Schwierigkeiten geben, heutzutage – ein Kind ohne Stammbaum. Ob es ein Jude war? Nein, bestimmt nicht. Er habe eine SA-Uniform getragen. Warum sie das denn nicht gleich gesagt habe? Da hat Gerd mit der Faust auf den Tisch geschlagen und dem Fragen ein Ende gesetzt. Man möge es unterlassen, die Frau eines verdienten Parteimitglieds zu beleidigen. Bald darauf war die Urkunde ausgestellt. Und damit eine der beiden Bedingungen erfüllt, an die sie ihr Jawort geknüpft hatte: erstens Elsa adoptieren, zweitens niemals nach Elsas Vater fragen.
Gleich hinter dem Bahnhof liegt das neue Alexanderhaus. Das rechtwinklige Gebäude überragt das schräg gegenüberliegende Warenhaus Hermann Tietz um mehrere Stockwerke. Trotzdem sieht es irgendwie kleiner aus. Rechtwinklig und rechtschaffen langweilig. In großen Buchstaben steht JONASS & CO auf dem flachen Dach. Für Vicky ist es, als ob das Alexanderhaus das Jonass gestohlen hat. Sie ist froh, dass sie nur noch stundenweise hier arbeitet und heute bloß gekommen ist, um Elsie abzuholen. Über den leeren, umgestalteten Alexanderplatz pfeift der Novemberwind. Elsie hakt sich bei Vicky ein und sucht Schutz unter ihrem Schirm. Gemeinsam kämpfen sie sich durch Wind und Regen bis zum Café »Kranzler« Unter den Linden. Die Stümpfe der frisch gefällten Linden sehen traurig aus. Die alten Linden sollen neuen Bäumen weichen.
Im »Kranzler« hängen sie die feuchten Mäntel an die Garderobe und legen die Hüte auf die Hutablage. Dann setzen sie sich an einen abseits stehenden Tisch, wo sie ungestört reden können. Vicky vertieft sich in die Karte, da fragt Elsie, die Augen auf Vickys Schal gerichtet: »Warum legst du nicht ab?«
Als Vicky rot wird und etwas von einer Erkältung murmelt, lacht Elsie. »Süße, deine Halsentzündungen kenn ich. Eher so äußerlicher Natur. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du dich in Ausübung deiner ehelichen Pflichten …
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