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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Einkaufstaschen beladen, auf dem Bürgersteig einen Tratsch. Als der Name Elsa fiel, ist sie unbemerkt hinter ihnen stehen geblieben. »Diese Elsa, was die für Ausdrücke gebraucht. Für unsere Gisela ist das kein Umgang.« – »Kein Wunder, Herr Helbig hat ihre Mutter ja in der Gosse aufgelesen, hört man. Das Kind soll sie auch schon gehabt haben. Sieht dem Vater nicht ein bisschen ähnlich.«
    In der Küche bindet sich Vicky eine Schürze um und klopft das Fleisch für die Schnitzel. Fleisch und Butter mitten in der Woche, eine Küche mit Fenster zum Garten, ein Bad mit Wanne und WC in der Wohnung und nicht auf halber Treppe – wie schnell man sich an diese Dinge gewöhnen kann, die noch vor einem Jahr in weiter Ferne lagen. Beim Gedanken an ihre winzige, dunkle Bude, in der es im Winter durch alle Ritzen zog, schüttelt sie sich. Dahin will sie mit Elsa nicht zurück. Doch offenbar sind sie auch hier noch nicht angekommen, in der gutbürgerlichen Nachbarschaft. »In der Gosse aufgelesen!« Vicky schlägt den Klopfer mit voller Wucht auf das Fleisch und stellt sich dabei das ausladende Gesäß von Frau Schmitter vor. Mit ihrem schlechten Ruf kann sie leben, aber es schmerzt, dass Elsa noch immer nicht in Sicherheit ist. Erst wenn jeder glaubt, dass Elsa zu Helbig und seinesgleichen gehört, ist wenigstens sie vor diesen Leuten gerettet.
    Elsa muss umerzogen werden. Gehäutet wie die Zwiebel, die sie mit dem scharfen Messer schält. Elsas Ausdrücke … Vicky seufzt. Fünf Jahre Chaja, Scheunenviertel und Bülowplatz sindnicht in einem Jahr auszuradieren. Oma Chaja, wie oft hat Elsa nach ihr gefragt, getobt und gebettelt, sie wolle sie wiedersehen. Schließlich hat sie Elsa erzählt, Oma Chaja sei gestorben. Beim ersten Besuch nach ihrem Auszug, ohne Elsa, hat sie Chaja Geld mitgebracht, aus der Haushaltskasse abgezweigt, für den Verdienstausfall. Davon wollte Chaja nichts wissen. Wenigstens so lange, bis sie ein anderes Kind betreuen und sich wieder etwas dazuverdienen könne. Sie würde schon klarkommen. Aber sie müssten es sich doch nicht vom Mund absparen, während Chaja … Sie brauche keine Nazialmosen. Sie saßen auf dem Schlafsofa im Souterrain, ein Hund lief vor dem Fenster vorbei. Die Scheibe hatte schon wieder einen Sprung. Hört das eigentlich nie auf, die alberne Flennerei beim Zwiebelschneiden?
    Elsa liegt in ihrem Zimmer auf dem Teppich und malt. Einen Buntstift hat sie in der Hand, einen im Mund und einen hinter jedes Ohr geklemmt. Sie kritzelt ein Haus auf das Blatt, mit rauchendem Schornstein. Gisela kann ihr gestohlen bleiben. Nur weil sie »verflucht« gesagt hat, ist die gleich heulend zu ihrer Mutti gerannt, die zimperliche Schickse. Aber das soll sie auch nicht mehr sagen. Für »Schickse« hat sie von Mama sogar eine Ohrfeige gekriegt. Seit Mama und sie beim Helbig eingezogen sind, ist Mama nicht mehr so lustig wie früher. Sie malt ein Kind mit braunen Zöpfen neben das Haus und eine Mutter mit braunen Locken. »Der Helbig« soll sie auch nicht sagen, dabei hat Mama das vor ihrer Hochzeit selbst immer gesagt. Aber jetzt Vati, sonst setzt es was. Dabei weiß sie genau, dass er nicht ihr richtiger Vater ist. Schließlich kommt sie bald in die Schule, für wie dumm halten die sie? Wer ihr Vater ist, weiß sie aber leider auch nicht. Sie malt einen Mann neben das Kind, der kriegt blaue Haare, weil der braune Stift abgebrochen ist. Ob man das in der Schule lernt, wie man seinen richtigen Vater erkennt? Das Dumme ist, dass sie Mama hoch und heilig versprechenmusste, ab jetzt immer dabei zu bleiben, dass ihr Vater ihr Vater sei – also der Helbig. Sie kaut auf dem blauen Stift herum, bis sie blaue Farbe an den Zähnen hat. Dann fällt ihr etwas ein. Einmal hat Mama gesagt, ihr Papa sei ein Musiker gewesen. Ein Musiker auf Reisen. Deshalb wäre er auch wieder weg. Später, wenn sie danach gefragt hat, hat Mama immer gesagt, das hätte sie nur geträumt. Das stimmt aber nicht! Sie hat geträumt, dass ihr Papa Pilot war oder Rennfahrer. Ein Pilot ist auch wieder weg. Ein Musiker kann genauso gut dableiben. Sie malt dem Mann eine Trommel vor den Bauch. So eine riesengroße, wie der Mann sie trug, der bei dem Umzug durch die Stadt vorneweg ging. Elsa legt sich auf den Rücken und starrt zur Decke. Die beiden hinter das Ohr geklemmten Stifte kullern auf den Teppich.
    Von ihr aus kann die Schule morgen anfangen. Da wird es andere Mädchen als Gisela geben und Bücher und Blätter und Stifte. Bloß

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