Torstraße 1
angesteckt hast?«
Eheliche Pflichten, denkt Vicky. Ja, davor hat ihr in der Tat gegraut. Aber es war halb so schlimm, wenn sie schon vor dem Zubettgehen eine Schlaftablette nahm. Sie musste nur aufpassen, nicht eines Abends dabei einzuschlafen. Gerd schien es nicht zu wundern, dass seine Frau so lethargisch im Bett war. Eher schien es ihm unheimlich, wenn sie einmal aus sich herausging. Selten erlaubt sie sich, beim Beischlaf mit Gerd an Harry zu denken. Und da ist sie einmal, als die Fantasie mit ihr durchging, feucht und laut geworden. Auf der Stelle hat Helbig nicht mehr gekonnt.
»Vicky?!« Elsie stößt sie an. Die Kellnerin steht mit ihrem Block am Tisch.
»Äh … heiße Schokolade. Mit Sahne, bitte.«
Kaum hat die Kellnerin ihnen die Schokolade serviert und den Rücken gekehrt, fängt Elsie wieder an. »Also Ehebruch. Und da du ja doch eine Treue bist, tippe ich außerdem auf Rassenschande.« Elsie schleckt Sahne vom Löffel und behält einen weißen Oberlippenbart. »Nur falls du’s noch nicht mitbekommen hast, das ist jetzt kriminell. Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Für dich ist es sowieso zu spät. Deshalb kannst du genauso gut weitermachen.«
Vicky legt den Zeigefinger auf die Lippen. »Elsie, wirklich …«
»Julius Streicher hat herausgefunden, dass das Sperma im Schoß der Frau in ihr Blut übergeht.« Elsie kratzt mit dem Löffel die dickflüssige Schokolade vom Tassenboden. »Durch den Beischlaf mit einem Juden wird das Blut einer arischen Frau verseucht. Diese Frau kann keine rassereinen Kinder mehr bekommen, auch nicht später von einem Arier.«
Vicky holt das Portemonnaie aus der Handtasche. »Weißt du, mir reicht’s jetzt. Ich möchte zahlen.«
Elsie fasst nach Vickys Hand. »Bitte bleib! Entschuldige, das war grob von mir. Und ganz ehrlich, ich würd’s gern wissen: Wie geht es Harry?«
»Nicht gut.« Vicky nimmt das Portemonnaie wieder an sich und gräbt die Fingernägel in das weiche Leder. »Du weißt ja, Grünbergs werden immer weiter aus dem Geschäft gedrängt. Alice soll darüber schon krank geworden sein. Carola darf nicht mehr studieren. Und Harrys Freundin Vicky hat sich auf die Seite des Feindes geschlagen. Nach der Hochzeit mit Gerd wollte er mich gar nicht mehr sehen. Aber gestern …« Sie unterbricht sich und senkt den Kopf.
»Aha«, sagt Elsie, »gestern.«
Vicky beugt sich zu Elsie und flüstert: »Bisher hat ihn die Musik über Wasser gehalten. Jetzt hat er quasi Auftrittsverbot. Darf nur noch vor Juden spielen. Jazzmusik im Rundfunk ist nun ganz verboten. Und stell dir vor, sie haben sogar überlegt, das Saxofon abzuschaffen!«
Elsie hebt die leere Tasse. »Ein Streicher und ein Anstreicher – und ganz Deutschland ist braun wie Sch…okolade.«
Nie hätte Elsie für möglich gehalten, dass sie einige Wochen später mit Gerd Helbig am selben Tisch bei »Kranzler« sitzen würde. Er hat sie im Kaufhaus nach der Arbeit abgefangen, sie erst um ein Treffen gebeten und es ihr, als sie ablehnen wollte, befohlen. Er ist immerhin jetzt ebenso ihr Chef wie Grünberg. Während vor dem Fenster des Cafés einzelne nasse Flocken herabtaumeln, sitzen sie sich gegenüber und blicken in die Teetassen.
»Fräulein Janssen, ich weiß, Sie sind seit Langem die beste Freundin meiner Frau. Ihre Vertraute.« Gerd Helbig rührt Kandis in den Tee. »Kommen Sie uns doch einmal in Steglitz besuchen. Sie leben allein, soweit ich weiß. Gerade in der Weihnachtszeit …«
»Danke, aber ich sitze nicht zu Hause und blase Trübsal.«
»Nein, Sie bestimmt nicht.« Helbig schaut traurig in seinen Tee. »Ich will offen zu Ihnen sein. Sie wissen, wie sehr ich Vicky … Ich habe sie zu meiner Frau gemacht, ihr Kind zu meinem Kind. Alles habe ich für sie getan. Und sie …« Plötzlich heftet er seinen Blick auf Elsie. »Trifft sie sich mit jemandem?«
»Gelegentlich.«
Er starrt sie an. »Wer? Wer ist es?«
Inzwischen sind die einzelnen Flocken zu dichtem Schneetreiben geworden. Immer mehr Menschen suchen Schutz im Café, der Geruch feuchter Kleidung hängt im Raum.
»Mit mir trifft sie sich gelegentlich. Das weiß ich, weil ichdabei bin. Wenn ich nicht dabei bin …« Sie zuckt mit den Schultern.
»Lassen Sie die Albernheiten und sagen Sie mir, was Sie wissen. Sie werden es nicht bereuen. Ich weiß, dass Sie das Zeug zu weit mehr haben als zu einer Verkäuferin. Möchten Sie nicht einmal in einer Stellung arbeiten,
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