Torstraße 1
vor allem Anlass zu immer neuen Ängsten und Sorgen.
Und deshalb kann er, will er nicht glauben, was Martha ihm nun nachts im Bett ins Ohr flüstert. »Nein«, sagt Wilhelm erst leise und dann noch einmal laut, dass es widerzuhallen scheint in der stillen, dunklen Stube. »Kein drittes, Martha, bitte, kein drittes.«
Doch es ist zu spät, obwohl sie immer aufgepasst haben. Und Martha will dieses Kind, ist von ihm abgerückt beim ersten Nein, hat ihm den Rücken zugewendet beim zweiten und weint nun leise ins Kissen.
»Wenn es ein Junge wird«, macht er einen Versuch, als könne er Martha damit doch noch vom dritten Kind abbringen, »nennen wir ihn Arno.«Arno ist ein schwacher kleiner Kerl, und Martha fällt nach der Entbindung in eine noch tiefere Traurigkeit als je zuvor. Und wenige Wochen nach Arnos Geburt, im März ’32, bekommt Hitler dreißig Prozent bei der Reichspräsidentenwahl. Nun geht Wilhelm doch manchmal in die Festsäle in der Koppenstraße zu den Versammlungen der Sozialdemokraten. Denkt an Arno, den kleinen, der so viel Sorgen bereitet, und den großen, der sich prügelt und verprügelt wird und wahrscheinlich bald tot auf der Straße liegt. Und ab und zu geht er auch ins »Nabur« am Schlesischen Bahnhof, wo sich Leute seiner Zunft treffen und es hin und wieder hoch hergeht. Noch immer hat er Arbeit, aber manchmal denkt Wilhelm, dass ein Sozi, wie er einer ist, sich daran nicht mehr lange freuen wird. »Hitler kommt«, sagt Arno immer, wenn sie sich sehen. »Und dann geht es uns an den Kragen.«
Aber darum kann man sich jetzt nicht kümmern. Das Leben bringt genug Sorgen, und die haben mit Hitler wenig zu tun. Es wird geredet, dass nun bald auch in die Hinterhäuser hier im Grünen Weg elektrisches Licht kommt. Martha freut sich darauf und ist zugleich ängstlich, ob es dann nicht zu teuer wird, das Leben. Mit den Nachbarn gibt es Streit wegen der Reinigung des Gemeinschaftsklos. Die Klokarte macht ihre Runde, aber nicht jeder nimmt es so genau mit dem Putzen. Und Wilhelm will nicht, dass Charlotte sich auf einem schmutzigen Klo eine Krankheit holt. Er will überhaupt, dass sie fröhlich und gesund ist. Baut ihr in der Wohnung eine Schaukel, indem er zwei Haken in den Rahmen der Küchentür dreht und ein Brett so lange hobelt und mit Sandpapier bearbeitet, bis es glatt ist wie ein Kinderpopo. Mit dem Satz bringt er sogar Martha zum Lächeln. Bernhard sitzt auf dem Fußboden, wenn Charlotte durch die Luft fliegt, und kräht sich seine eigenen Lieder zurecht. Das sind die guten Momente im Leben. Noch können sie dem Hauswirt jede Woche die Miete geben, und Gasgroschen für die Gasuhrsind auch da. Wenn Strom kommt, wird noch der Elektrische vor der Tür stehen und kassieren. Eine Anlage für Licht und eine Steckdose in jedem Raum kosten fünf Mark. Martha hat das Geld schon gespart. Es liegt in der blauen Zuckerdose im Küchenbüfett.
Es ist ein heißer Tag im Juni, und die Wiesen und Wege im Volkspark Friedrichshain sind voller Menschen und Hunde und herumkurvender Fahrradfahrer. Martha und Vicky haben Decken auf einer Liegewiese ausgebreitet und packen Schüsseln und Flaschen aus den Körben. Auch dieses Picknick zu Bernhards und Elsas drittem Geburtstag war ein Vorschlag von Vicky, sie nennt die beiden Kinder Wahlgeschwister. Wo sie das wohl herhat, fragt sich Wilhelm. Dabei scheint es ihm immer, als hätte die fröhliche Vicky so ganz für sich einen großen Kummer. Nie redet sie von einem Mann, und Fragen nach Elsas Vater sind weiterhin streng verboten. »Wird schon irgendein feiner Pinkel sein«, sagt Martha, wenn sie darauf zu sprechen kommen. »Oder einer, der im Gefängnis sitzt.« Solche Sachen hat sie bloß aus den Heftchen, die sie manchmal von der Schulzen zugesteckt bekommt. »Dieses Zeugs«, brummt Wilhelm, wenn er Martha damit am Küchentisch erwischt. »Soll ich das Zeugs lesen, das Arno dir heimschleppt«, fragt Martha und lacht im gleichen Augenblick. So eine Vorstellung ist das, wie sie am Küchentisch sitzt und etwas von Marx liest oder Thälmann. Das findet auch Wilhelm komisch und sagt, er kümmere sich schon um Marx und Thälmann. Solle sie mal ihr Liebeszeug studieren.
Um die Geburtstagsgesellschaft herum sitzen andere Mütter auf Decken im Gras, und kleine Kinder toben nackt über den Rasen. Direkt neben ihrer Picknickdecke pinkelt ein Junge einen hohen Bogen. Wilhelm nimmt den kleinen Kerl kurzerhand hoch, während der noch pinkelt, und stellt ihn drei Meter weiter
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