Torstraße 1
Sohn wieder an sich und antwortet: »Auf der Arbeit. Der kommt erst heut Abend nach Hause.«
»Nach Hause«, wiederholt Vicky und sieht plötzlich traurig aus.
Die hat es auch nicht einfach, denkt Martha und erkundigt sich, wo Elsa jetzt ist. Bei der Nachbarin, erklärt Vicky. »Am Samstag will ich sie mit ins Jonass bringen. Vielleicht könnt ihr ja auch kommen, mit dem Wilhelm. Dann kann Bernhard mit Elsa hier spielen.«
»Wenn der Wilhelm nicht arbeiten muss«, antwortet Martha. Jedes Mal, wenn Vicky über Wilhelm spricht, geht es ihr durch den Kopf, dass er dabei war, als sie in den Wehen lag. Und das kommt ihr nicht recht vor, auch wenn sie ihr keinen Vorwurf machen kann. Aber warum hat sich Vicky so viel Mühe gegeben, Wilhelm in dieser großen Stadt zu finden? Ob es ihr wirklich nur darum ging, einen kleinen Bruder für ihre Elsa zu haben?
»Wir müssen dann«, sagt Martha zu Vicky. »Nach Hause.«
Auch Arno findet es erstaunlich. Dass einer wie Wilhelm immer Arbeit hat in diesen Zeiten. Aber er bleibt dabei, dass die Aussichten trübe seien. Im Januar ’31 erwischt es ihn fast bei einer Massenschlägerei im Saalbau Friedrichshain.
»Warum gehst du da hin«, will Wilhelm wissen, als er Arno im Krankenhaus besucht. »Musst du dir den Goebbels anhören, brauchst du das? Du weißt doch, was der redet.«
»Wir haben ihn ja verjagt.« Arno versucht, mit seinen dick und blutig geschlagenen Lippen zu grinsen. »Der hat doch das Weite gesucht, der Goebbels.«
»Ja, aber ihr schafft die nicht mehr aus der Welt!« Wilhelm ist laut geworden, und eine Krankenschwester steckt den Kopf durch die Tür, wahrscheinlich, um zu schauen, ob sich der Kommunist da drinnen wieder prügelt.
»Da wirst du wohl recht haben«, antwortet Arno und dreht sich mit dem Gesicht zur Wand. »Die kriegen wir nicht mehr aus der Welt, wenn alle denken wie du.«
Am liebsten möchte er Arno zu sich drehen, ihn packen und schütteln. »Ich habe Kinder, ich muss eine Familie ernähren! Ich kann nicht Räuber und Gendarm spielen wie ihr vom Rotfrontkämpferbund! Werd endlich erwachsen, Arno.« Wilhelm wartet, unendlich lange Minuten wartet er, doch der Freund liegt mit dem Gesicht zur Wand und bleibt stumm. Das Summen der grellen Deckenlampen rauscht in Wilhelms Ohren, zusammen mit seinem Blut, bis er aufspringt und aus dem Zimmer rennt, im Laufschritt durch den Krankenhausflur, vorbei an der verdutzten Krankenschwester und endlich hinaus in die schneidend kalte Winterluft. Er denkt an seinen Bruder, der ins braune Hemd gestiegen und vielleicht einer von denen gewesen ist, die Arno so zugerichtet haben im Saalbau.
Wenn Wilhelm ans Jonass denkt, mischt sich in seinen Erbauerstolz Sorge und Missmut. Martha hat einfach eines Tages begonnen, bei Jonass auf Pump zu kaufen. Nun sind sie in ihrem Haus wahrscheinlich die mit dem schönsten Geschirr. So eine Angeberei. Er würde sich schämen, das teure Porzellan zur Schau zu stellen, wenn Arno zu Besuch da ist oder die Nachbarin, die selbst nur angeschlagene Tassen besitzt. Nur zu besonderen Gelegenheiten kommt es ihm auf den Tisch, wie heute zur Geburtstagsfeier der Kinder. Vicky hat vorgeschlagen, Elsas und Bernhards zweiten Geburtstag zusammen zu feiern. Wie schon im Jahr zuvor, doch da war Martha dagegen gewesen. Auch diesmal hat sie gehadert, aber schließlich hat er sie umstimmenkönnen. Es ist richtig, dass Bernhard und Elsa gemeinsam Geburtstag feiern. Zwischen den Kindern gibt es eine Verbindung. Davon ist er überzeugt seit dem ersten Tag.
Eine der teuren Tassen ist heute beim Geburtstagskaffee zu Bruch gegangen. Er hat erwartet, dass Martha in Tränen ausbricht, doch sie hat bloß erstaunt ausgesehen, als hätte man sie aus einem Traum aufgeschreckt. Damals, als die auf Raten gekauften Kostbarkeiten aus dem Jonass eintrafen, wollte er Martha auffordern, die Sachen zurückzugeben. Aber da wickelte sie schon Teller und Tassen aus dem Seidenpapier mit glänzenden Augen, wie er sie lange nicht bei ihr gesehen hatte, und er schluckte die Worte hinunter. Und auch heute, wo die Tassen und Untertassen längst abbezahlt in der Vitrine stehen, denkt er, dass es zu selten solch glänzende Augen und Augenblicke bei Martha gab. Zu oft war sie traurig und still, und manchmal in der Nacht, wenn sie neben ihm wimmerte im Schlaf, erschien sie ihm unerreichbar in einer fernen und finsteren Welt. Obwohl sie ihre Kinder so sehr liebte, oder ebendeshalb, kommt es ihm in den Sinn, schienen sie für Martha
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