Torstraße 1
wieder ab. Ringsum wird gelacht. Elsa tollt mit Bernhard überdie Wiese wie all die anderen Gören auch, ihr weißes Kleid ist übersät mit grüngelben Flecken, und die Hände sind klebrig von Kuchen und Limonade. Aber das scheint Vicky nicht zu stören, stolz schaut sie der kleinen Tochter hinterher. Auch Martha sieht froh aus, wenn Bernhard seinen neuen Ball durch die Luft schießt, dass er in die nächsten Büsche fliegt. Nur der kleine Arno liegt still auf der Decke im Schatten und rührt sich kaum. Immer wieder versucht Martha, dem Jungen bei der Hitze etwas zu trinken einzuflößen, doch der öffnet nicht einmal den Mund.
Als alle zum Aufbruch rüsten, sind die Geburtstagskinder verschwunden. Wilhelm macht sich auf die Suche, schon bald hat er die beiden entdeckt. Sie sitzen hinter einem Baum versteckt und reden miteinander. »Leg dich hin«, sagt Elsa zu Bernhard, »ich muss jetzt messen, ob du Fieber hast.« Bernhard legt sich gehorsam ins Gras und lässt sich von Elsa ein Stöckchen in den Mund schieben. »Hundert«, verkündet Elsa, als sie Bernhard das Stöckchen aus dem Mund nimmt und es ernst betrachtet. »Du musst sofort ins Bett.«
Doch es ist Arno, der schlimm krank wird. Der kleine Arno. Immer wieder bekommt er Fieber und schlimmen Husten, das ganze Geld aus der Zuckerdose braucht Martha für Medizin, die nicht hilft. Der Winter hat die Stadt fest im Griff, und Martha mag kaum aus dem Haus gehen. »Es wird nie wieder hell, Wilhelm«, sagt sie manchmal. »Dieser Winter wird kein Ende haben.« Tagsüber kümmert sie sich um die Kinder, putzt und kocht, wäscht und bügelt. Bis spät in die Nacht näht und flickt sie die Kleider anderer Leute, damit Geld in der Dose ist. Geld für Arnos Medizin. Wilhelm ist diese neue Emsigkeit unheimlich. Fast sehnt er sich nach der früheren müden Martha zurück. Angst und bange wird ihm manchmal beim Anblick dieser Frau, deren Arme und Hände sich ruhelos bewegen, deren Lippen niemals lächeln und selten sprechen.
Den großen Arno bekommt man kaum noch zu Gesicht. Der redet davon, ganz in die Illegalität zu gehen, zu verschwinden. Wie soll das gehen in dieser Stadt, fragt sich Wilhelm. Oder vielleicht geht es ja auch gerade in dieser Stadt. Aber sein Freund schweigt dazu. Vielleicht ist er misstrauisch, vielleicht will er nicht, dass Wilhelm später etwas erzählen kann. Wenn es dann doch einmal hart auf hart kommt.
Am Tag nach der Kundgebung der Kommunisten im Schöneberger Sportpalast verhaften sie viele, die von Arnos Kaliber und Haltung sind. Man munkelt von Folter und Internierung. Beim Krämer an der Ecke flüstern die Frauen, es hätte den Kroppenstedt erwischt. Martha erzählt es am Abend, und Wilhelm schweigt dazu. Er weiß von der Schulzen, dass es stimmt. Der Kroppenstedt wohnt im Nachbarhaus, und Martha will wissen, ob es dem Arno auch so gehen könne. Auch dazu kann man nur schweigen. Zu spät merken sie, dass Bernhard unter dem Küchentisch sitzt und mit seinen Holzbooten spielt.
»Wer sind die Braunen?«, will der Junge wissen. »Wenn die Onkel Arno verhauen, schieße ich sie mit meinem Gewehr um.«
Martha schlägt die Hand vor den Mund und schaut, als stünde das Unglück direkt vor der Tür.
Am Samstag darauf dreht Wilhelm mit Arno, seinem besten Freund, eine große Runde ums Karree. Am Schlesischen Bahnhof möchte er schnell vorbei, ohne nach rechts und links zu schauen, so viel Elend. Einmal mehr wundert es ihn, dass er selbst bis jetzt durch die Zeiten gekommen ist. Er bietet Arno an, ihn zu verstecken, auch wenn die Wohnung eng sei. Man könne im Wohnzimmer einen Verschlag abteilen. Mit einem Schrank davor. »Ich hab noch ein paar Bretter. Kein gutes Holz, war zum Verschalen gedacht. Daraus mache ich eine Zwischenwand, die streichen wir, und da kannst du schlafen und verschwinden, wenn der Gasmann kommt.«
Inzwischen hat der Reichstag gebrannt. So einen wie Arnowerden sie auch bald ins Lager bringen, da ist Wilhelm sicher. Und doch hofft er im Stillen, der Freund möge eine andere Lösung finden, als bei ihnen unterzukriechen. Die drei Kinder, alles dreht sich darum, dass es ihnen gut geht. Mit einem Illegalen in der Wohnung würde das Leben gefährlich. Aber er ist es Arno schuldig, wenigstens das Angebot zu machen. Denn am Ende hat der ja recht behalten. Die Braunen haben’s geschafft, und Wilhelms Bruder ist einer von den Schlägern geworden, die nachts Kommunisten jagen. Sie in die Hinterzimmer der Kneipen bringen, um sie dort in
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