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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Betten, während der Junge in Dunkelheit und Kälte herumirrt? Hauptsache, die Wäsche ist gebügelt und die Hausaufgaben sind gemacht? Nun gut, sie kann Klaus auch nicht leiden. Sie bückt sich nach etwas, das wie eine Zigarettenkippe ausgesehen hat, aber leider nur ein nasses Blatt ist. Gibt es überhaupt jemanden, der Klaus leiden kann? Schulfreunde bringt er nie mit nach Hause, mit den Nachbarskindern spielt er nicht. Aber ein paarmal hat er damit geprahlt, dass er zu einer geheimen Bande gehört. Irgendwas mit Wölfen, die in den Ruinen hausen. Hätte sie ihm bloß besser zugehört! Jedenfalls waren diese »Wolfshöhlen« nicht weit vom Alexanderplatz, das hat sie sich gemerkt. Sie hat das Gefühl, dass sie dort in der Gegend ihren Bruder finden könnte. Ob man sie mitten in der Nacht, allein und zu Fuß, über die russische Sektorengrenze lässt?
    Völlig ausgekühlt nach dem langen Fußmarsch überquert Elsa die Brücke am Mühlendamm. Selbst im Winter stinken die Spree und die Kanäle. Auch Abwasserpumpen brauchen Strom. Der Alexanderplatz sieht noch immer wüst aus, halb zusammengeflickte Gebäude neben Ruinen. Auf dem Gerippe desausgebrannten Alexanderhauses prangt unversehrt der riesige Schriftzug JONASS. Das richtige Jonass ist dieses Haus für sie nie gewesen, so wie das Kaufhaus Jonass an der Lothringer Straße, in dem sie geboren wurde, in dem ihre Mutter und Elsie gearbeitet haben. In dem sie mit Bernhard gespielt hat. Bernhard. Wenn er doch hier wäre, sich mit ihr auf die Suche nach dem Bruder machen würde. Warum hat sie ihn nicht mehr sehen wollen, nach diesem Weihnachtsfest vor drei Jahren? Was hat er ihr denn getan?
    Noch immer stürzen ausgebombte Häuser ein, werden Menschen in Kellern verschüttet, Frauen und Männer auf der Suche nach Kohle und Bauholz, spielende Kinder. Sie muss vorsichtig sein. Wo würde sich eine Kinderbande verstecken? Sicher in einer Ruine, in der sie so wenig wie möglich gestört wurden. In irgendeiner Seitenstraße, einem Hinterhof. Obwohl ihr die Knie schlottern, steigt sie in leer stehende, zerbombte Häuser, leuchtet mit der Taschenlampe in die Ecken, horcht. Einmal fällt sie beinahe über zwei in Decken gewickelte Gestalten, die sich in einer Ecke schlafen gelegt haben. Direkt unter zwei morschen Holzbalken, die aussehen, als würden sie jeden Moment herabstürzen. In einem Keller stößt sie auf Metallreste, Nägel und kleine Blechstücke mit scharfen Kanten. Sie steckt so viele wie möglich in die Taschen. Zu dumm, dass sie keinen Rucksack dabeihat. Für Metall bekommt man auf dem Schwarzmarkt so einiges. Am Nachbarhaus haben sie nachts die Dachrinne und die Türklinke abmontiert.
    Plötzlich hört Elsa Stimmen. Dann Hundegebell. Das Gebell klingt seltsam dumpf, aber die Stimmen so hell – das könnten Kinder sein! Es kommt aus dem Keller. Sie folgt den Stimmen, schleicht sich an und hört Gelächter. Das Bellen ist in Jaulen und Winseln übergegangen, unheimlich gedämpft. Sie hat das Gefühl, direkt über ihnen zu sein. Im Fußboden klaffen breite Spalten. Elsa schaltet die Taschenlampe aus, robbt sich bis zurnächsten Spalte und schaut hinunter in den Keller. Ein Feuer brennt unter einem aufgehängten Kübel und wirft flackerndes Licht auf die darum stehenden Menschen. Es sind Kinder, drei Jungen und ein Mädchen. Sie stehen um einen großen braunen Hund, der mit zusammengebundenen Beinen und verbundener Schnauze auf dem Boden liegt. Einer der Jungen hält ein langes Messer und nähert sich dem Hund. Der ist ganz still geworden, auch die Kinder sind nun still.
    Kurz darauf lehnt Elsa im U-Bahn-Schacht an der Wand. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten, doch die Holzbänke auf den Stationen sind längst in die Öfen gewandert. Sie wird warten, bis die erste Bahn fährt, um sie nach Hause zu bringen. Ohne den Bruder.
    Bruder – das ist für sie immer Bernhard gewesen, denkt Elsa, als sie in ihrem kalten Bett liegt, todmüde und halb erfroren. Klaus und Werner gehörten zu einem anderen Vater, einer anderen Zeit. Der Zeit, als Helbig und die Nazis an die Macht kamen – Gerd Helbig zu Hause und im Kaufhaus Jonass, die Nazis in der Schule, in der Mädelgruppe, in den Straßen, im Radio und überall sonst. Auch ihre Mutter war eine andere geworden in der Zeit n. H. – nach Helbig und Hitler. Nur selten blitzt wie jetzt eine Erinnerung auf an die Mama, deren grüne Augen leuchten, während sie eine Platte auf das Grammofon legt und sich zur Musik

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