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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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ein ganz anderes Gesicht, das einer Schulmädchen-Ingrid, einer Vorkriegs-Ingrid. »Was machst du da?«, wollte Ingrid wissen, und Elsa hat ihren Skizzenblock schnell in die Kitteltasche geschoben. »Ach, ich schreib Rezepte auf«, hat sie geantwortet. »Mit lauter verrückten Dingen. Schnitzel – kein Büchsenfleisch, weißt du – und Kartoffeln, ovale, feste Knollen. Schön gelb. Dazu Erbsen, so runde, grasgrüne …« – »Der Trockenkohl ist gar nicht schlecht«, hat Ingrid ihr Märchen beendet. »Man muss ihn nur mit einer Prise Salz und Zucker einweichen.«
    Heute ist sie zu müde, um in den wenigen ruhigen Minuten, bevor die nächste Schicht anrückt, Skizzen zu machen. Ganze Blöcke hat sie schon gefüllt. Dabei träumt sie Tag und Nacht davon, eine eigene Kamera zu besitzen. Träum weiter, sagt Elsa und hängt den Kittel an den Haken. Der Fotograf konnte sie nach ihrer Lehre nicht übernehmen, kann kaum selbst überleben. Heute dreht sich alles um Kartoffeln und Brot. Neben ihr auf der Bank liegt eine Zeitung, die will sie für zu Hause einstecken. Ihr Blick fällt auf die Titelseite: »Neues Deutschland«, liest sie, »Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«. Und das in den heiligen Hallen der amerikanischen Luftbrücke! Diese Zeitung hat sie noch nie gelesen,und sie beginnt, darin zu blättern. »Betriebskollektiv – Verbesserung des Werkküchenessens … Einführung des Leistungslohnes in den volkseigenen Betrieben …« Da bleibt ihr Blick am Namen unter einem Artikel hängen. Bernhard Glaser. Der Bernhard Glaser?! Ihr Freund aus Kindertagen, den sie seit drei Jahren aus den Augen verloren hat? Und der schreibt jetzt fürs Neue Deutschland? Vorsichtig rollt sie die Zeitung zusammen und steckt sie in ihre Tasche. Die drei Jahre ohne ihn kommen ihr wie verloren vor.
    Sie zieht den Mantel über und tritt durch das Tor der Flughafenhalle in den stärker werdenden Regen hinaus. Das ohrenbetäubende Gedröhn der Flugzeugmotoren hört sie schon gar nicht mehr. Vicky stopft sich nachts Watte in die Ohren, weil sie sonst kein Auge zutun könnte, sagt sie. Doch auch mit zugestopften Ohren geistert sie Nacht für Nacht durch die enge Wohnung. Einmal ist ihnen die Watte ausgegangen. Und woher sollte man neue bekommen? Vicky hat es mit Stoffresten versucht, mit Werners durchgekauten Kaugummis, aber nichts wollte im Schlaf in den Ohrmuscheln halten. Irgendwann hat sie eine Nachbarin gefunden, die bereit war, Brot gegen Watte zu tauschen. Erst seit sie mit ihrer Mutter ein Zimmer teilen muss, weiß sie, wie unruhig deren Schlaf ist. Manchmal schreit oder weint Vicky im Traum. »Keller!«, schreit sie. »Wach auf, in den Keller!« Oder sie winselt mit hoher Stimme »Feuer!«, »Feuer!«, bevor sie wieder in den Schlaf fällt. Für Vicky bedeuten die Flugzeuge nach wie vor Bomben. Für Klaus bedeuten sie Feind, für Werner Schokolade. Und für sie selbst? Arbeit, etwas Geld und einen unangreifbaren Vorwand, jeden Tag fortzukommen von zu Hause.
    Auch wenn sie langsam nass wird, hat Elsa es nicht eilig. Der Flughafen liegt an einem alliierten Glücksstrang, wie sie die Stromleitungen nennen, durch die Tag und Nacht jener Saft fließt, der alles am Leben hält. Doch je weiter sich Elsa vomFlughafengelände entfernt, desto dichter und schwerer liegt die Dunkelheit in den Straßen. Die gewöhnlichen Häuser und Einwohner von Tempelhof sind heute erst um Mitternacht an der Reihe, ihre tägliche Zweistundenration Strom zu empfangen. Keine Autoscheinwerfer, keine Straßenlaternen, durch die Fenster der Wohnungen dringt hier und da das Flackern von Kerzen oder der schummrige Schein einer Petroleumlampe. Kein Radio. Nur das Dröhnen und die Lichter der Flugzeuge durchbrechen die Decke der Ruhe und Finsternis über der Stadt. Fast wie im Krieg, denkt Elsa. Vor vier, fünf Jahren, als ich noch ein Kind war. Ein junges Mädchen, alt genug für den Bund Deutscher Mädel. Alt genug für den Dienst an der Heimatfront. Alt genug für die Bomben und die Toten. Und trotzdem, ein Kind. Bis zu diesem Mittag im Mai, als sie an ihre Haustür hämmerten. Genau zwölf Uhr mittags ist es gewesen, sie erinnert sich, dass die Kirchenglocken läuteten, die Kirche war halb zerbombt, aber der Glockenturm stand. Beten konnte sie nicht.
    Elsa sucht Schutz in einem Hauseingang, steckt ihre letzte Zigarette zwischen die Lippen, holt die Zündholzschachtel hervor. Wie immer, wenn sie an das denkt, was nach dem

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