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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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lässt sich im Dunkelnja auch nicht, selbst wenn man das Glück hat, statt einer elektrischen Nähmaschine noch eine alte mechanische zu besitzen. Aber jetzt kommt es ihr doch ein bisschen zu still vor. Was machen Klaus und Werner? Die werden doch nicht schon schlafen gegangen sein! Die Tür zum Zimmer ihrer Brüder ist geschlossen.
    Elsa schaut in die Küche. Eine vermummte Gestalt sitzt am Küchentisch. »Mama?« Eiskalt ist es in der Küche, kalter Branda-Rauch hängt in der Luft. Die Kerze auf dem Küchentisch ist verloschen. Die vermummte Gestalt wendet nicht einmal den Kopf. »Was ist passiert?«
    Elsa setzt sich Vicky gegenüber, zündet sich die Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Noch bevor Vicky den Mund aufmacht, strömt Elsa der Geruch von Alkohol in die Nase. Komisch, dafür reicht’s immer, denkt sie. Im Dunkeln und in mehrere Schichten Kleidung gehüllt, mit einem Wollschal um den Kopf gewickelt, sieht Vicky wie eine alte Frau aus. Dabei haben sie erst letzten April ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert. Elsie hat Marmorkuchen gebacken. Damals, als es noch frische Eier und Milch gab.
    »Dein Essen steht auf dem Herd«, sagt Vicky schleppend. »Du kannst zwei Portionen haben. Klaus braucht nichts mehr.«
    »Mama! Was ist mit ihm? Sag mir endlich, was hier los ist!«
    Statt einer Antwort schlägt Vicky mit der Faust auf den Tisch. »Der Gauner! Ein Dieb an der eigenen Familie.« Nach und nach rückt sie mit der Geschichte heraus, während Elsa die aufgewärmte Kohlsuppe löffelt. »Stell dir vor, Elsa, neunhundert Gramm Fett, zweihundertfünfzig Gramm Trockenei, Corned Beef …« Sie bewegt beim Sprechen den Oberkörper vor und zurück. »Tee, Schokolade. Käse. Dreizehn Kilo, vierzigtausend Kalorien.« Sie hält inne und schaut ihrer Tochter in die Augen. »Siebentausend Mark auf dem Schwarzmarkt, tausend Zigaretten …«
    Elsa tunkt ein Bröckchen hartes Brot in die Schüssel. »Tausend Zigaretten!«, seufzt sie. »Der kleine Scheißkerl!«
    Elsa öffnet die Augen und schließt sie wieder. Sie tastet nach dem Schalter und knipst die Hundert-Watt-Birne aus, die auf ihr Gesicht gerichtet ist. Ein greller Schmerz ist ihr in die Augen gefahren, aber sie ist hellwach, die Birne hat ihren Zweck erfüllt. »Unseren täglichen Strom gib uns heute!«, sagt Elsa und setzt sich im Bett auf. Das Bett an der gegenüberliegenden Wand ist leer.
    In der Küche brennt Licht, Vicky steht am Bügelbrett. Sie trägt dicke Socken und Pantoffeln, lange Hosen, darüber ein Wollkleid und eine Strickjacke. Wie lange hat ihre Mutter im Dunkeln am Bügelbrett gestanden, um genau in der Sekunde des Einschaltens loszubügeln?
    »Kannst du für morgen vorkochen?«, fragt sie Elsa. »Die Sachen stehen auf dem Tisch.«
    Schlaftrunken schüttet Elsa die vorgeweichten Kartoffel- und Gemüsewürfel in den Topf. Auch das Trinkwasser muss abgekocht werden, seit die Kläranlagen nicht mehr richtig funktionieren. Das Radio läuft. Immer wieder werden die RIAS-Nachrichten vom Fluglärm übertönt. Dem täglichen Insulaner-Lied geht es nicht besser, doch den Refrain kennen sie auswendig.
    »Der Insulaner verliert die Ruhe nicht«, singen Vicky und Elsa, »der Insulaner liebt keen Jetue nicht. Und brummen des Nachts auch die viermotorjen Schwärme, det is Musik für unser Ohr, wer red’t vom Lärme?«
    Werner kommt in die Küche, in Schlafanzug und Wollpullover steht er im Türrahmen und stimmt ein. »Der Insulaner träumt lächelnd wunderschön, dass wieder Licht ist und alle Züge gehn. Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Insel wieder ’n schönes Festland wird. Gibt’s Kakao?«, fragt er und nimmt gähnend den Becher entgegen. Sein Gesicht hellt sichauf. »Sogar heiß!« Dann setzt er sich an den Tisch und schlägt ein Heft auf. »Muss noch Mathe machen für die erste Stunde.« Im Schein der Lampe fällt Elsa sein verschwollenes Gesicht auf.
    »Sagt mal, was ist mit Klaus? Verschläft der neuerdings die Elektrizität?« Sie bekommt keine Antwort. Als hätte es in diesen Räumen nie einen Jungen namens Klaus gegeben. Gibt auch keinen, stellt Elsa fest, als sie das Zimmer ihrer Brüder betritt. Klaus’ Bettdecke liegt unberührt da.
    Mit ihrem schärfsten Küchenmesser und der selbst gebastelten Taschenlampe mit Dynamo hat Elsa sich auf den Weg gemacht. Tausend Zigaretten hin oder her, Klaus ist doch noch ein Kind! Zwölf Jahre alt und unausgegoren, wie man in diesem Alter eben ist. Und da liegen sie seelenruhig in ihren

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