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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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dreht. Der Rock ihres Kleides schwingt um sie herum, sie wirft die Arme in die Luft, lacht und tanzt aus dem Raum.
    Vickys Bett gegenüber ist leer, die Ecken der Wolldecke sind im Bettrahmen festgesteckt. Wahrscheinlich steht sie wieder an, um Lebensmittel oder Seife oder neue Kohlen zu besorgen. Werner wird in der Schule sein, und Klaus ist noch immer nicht nach Hause gekommen. Elsa stopft Watte in die Ohren und dreht sich zur Wand. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren wird leiser.
    Bernhard ist bis zu jenem Weihnachtsfest ihr Bruder gewesen, trotz der kindischen Verlobung mit Kuss hinterm Fliederstrauch. Gelobt haben sie sich doch nur, dass sie zusammenbleiben oder sich, wenn eine Trennung unvermeidlich war, wiederfinden wollten. Und als endlich der Krieg vorbei war, da war es auch mit dem Bruder vorbei. Da war Bernhards Mutter fort oder tot und der Vater vermisst, auch ihr Stiefvater Helbig war tot, im Krieg gefallen, wie man das nannte. Berlin war im Krieg gefallen und mehr tot als lebendig, und ebenso war es Elsie.
    Nach der Nachricht vom Tod ihres Mannes trug Vicky schwarz. Dabei war es Elsa nie so vorgekommen, als ob ihre Mutter Gerd Helbig besonders geliebt oder vermisst hätte, als er noch am Leben war. Wenn jemand in diesem Haus Anlass gehabt hätte, in Schwarz zu gehen, wäre es Klaus gewesen. Klaus hatte seinen Vater und sonst niemanden geliebt, Klaus war von seinem Vater und sonst niemandem geliebt worden. Und dieser Vater war tot.
    Vicky war sofort einverstanden, dass Bernhard mit ihnen Weihnachten feierte, das erste Weihnachten nach dem Krieg. Der arme Waisenjunge, hatte sie gemurmelt, und Elsa erinnerte sie daran, dass Wilhelm Glaser vermisst, aber deswegen noch lange nicht tot war. Und auch für Bernhards Mutter fehlte der Totenschein. Martha wurde niemals gefunden, weder tot noch lebendig. Alle waren sicher, dass sie sich das Leben genommen hatte. Was sonst sollten ihr Verschwinden und ihr Abschiedsbrief bedeuten? Nur einer glaubte fest daran, dass sie bloß fortgegangen war. Wer fortging, konnte wiederkommen. Je schneller die anderen die Hoffnung fahren ließen, desto zäher hielt Bernhard daran fest. Zuerst versuchten sie, dem armen Jungen die Wahrheit schonend beizubringen, später verloren sie die Geduld. Je mehr Jahre vergingen ohne ein Lebenszeichen von Martha, je mehr aus dem Jungen ein junger Mann werden sollte, desto einsamer stand er da mit seiner Überzeugung, wie derletzte Anhänger eines von aller Welt belächelten Glaubens. Sie selbst war die Einzige, die es zwar nicht für wahrscheinlich hielt, dass Martha noch lebte, aber auch nicht für unmöglich. Warum sollte es nicht möglich sein, dass eine Mutter die Familie verließ und verschwand. Auch ihr Vater war verschwunden und lebte doch irgendwo auf dieser Welt.
    Sie war mit Bernhard auf die Suche gegangen in den ersten Jahren des Krieges, immer wieder, überall in Berlin. Fortgestohlen hatten sie sich von zu Hause, niemand wusste davon. Mehrmals waren sie mit ihren zusammengekratzten Münzen nach Gollwitz gefahren, eine weite Reise war es bis in das Dorf, wo Marthas Eltern auf dem Friedhof lagen. Einen Brief hatte Bernhard auf das Grab gelegt, in einem Kästchen aus Holz, und einen Stein darauf. Sie war fast sicher, dass er noch immer von Zeit zu Zeit hinfuhr und Steine auf Briefe legte. Sie würde es ebenso machen, wenn sie einen einzigen Ort wüsste, an den ihr Vater zurückkehren könnte.
    Ich sollte den Ofen anheizen, denkt Elsa, die unter der Bettdecke zittert, aber dazu braucht man unermessliche Kräfte. Sie holt sich die Decke von Vickys Bett und legt sie über ihre eigene. Doch die Decke wärmt nicht, ihre nicht, die ihrer Mutter nicht. Ein Mensch an ihrer Seite, vielleicht würde der wärmen. Bernhard an ihrer Seite, am Heiligen Abend gleich nach dem Krieg. So warm war ihr da geworden, dass sie sich gleich die Finger verbrannte.
    Weihnachten ’45 waren ihre Tage in der einsturzgefährdeten Villa gezählt gewesen. Kurz vor Kriegsende hatte das Haus eine Bombe abbekommen. Da lebten Vicky, sie und ihre Brüder schon im Dachgeschoss. In die untere Etage war eine ausgebombte Familie einquartiert worden. Einmal schrie Vicky, als die Einquartierten wieder auf die Juden schimpften, denen sie das alles zu verdanken hätten, auch dieses Dach über dem Kopf hätten sie Juden zu verdanken. Sprachlos starrten die Einquartiertenauf die Naziwitwe. Kurz darauf wurde ihr Haus getroffen. Sie saßen im Luftschutzkeller, hörten es heulen und

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