Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
knallen, da sprang Vicky auf. »Das Haus!«, schrie sie und wollte nach draußen rennen. Zwei Nachbarn hielten sie an beiden Armen fest, bis Entwarnung gegeben wurde. Das Haus brannte, aber es brannte nicht ab, es hatte ein Loch im Dach, aber noch immer ein Dach und dreieinhalb Wände. Als die Flammen gelöscht waren, gingen Vicky und sie durch die Räume. Als Erstes stürzte Vicky die Treppe hoch in Elsas altes Kinderzimmer. In der Decke klaffte ein riesiges Loch, man konnte die gebrochenen Rippen der Dachbalken sehen, das halbe Zimmer war mit Schutt bedeckt. Hinter dem Kleiderschrank, wo die Wand mit der uralten Tapete gewesen war, gab es weder Wand noch Tapete. Der Schrank aber war stehen geblieben, man konnte nun an ihm vorbei ins Freie spazieren und einige Meter tiefer im Garten landen. Beim Anblick der fehlenden Wand war Vicky zusammengebrochen. Dabei hatte man weiß Gott Schlimmeres gesehen in diesen Wochen und sah es jeden Tag.
    Das Dachgeschoss wurde notdürftig abgestützt, aber das Haus musste geräumt werden, nachdem ein Gutachter von der Stadt den Schaden besichtigt hatte. Die Risse zogen sich bis zum Fundament hinunter, die ganze Statik war im Eimer. Einsturzgefährdet, hieß es, zu gefährlich, dort weiter zu wohnen. Lebensgefährlich. Und das war das Todesurteil für ihr Haus. Einige Monate widersetzte sich Vicky der Anordnung, mit den Kindern das Haus zu räumen. Himmel und Hölle hatte sie bei den Behörden in Bewegung gesetzt, um in der Villa bleiben zu dürfen, doch vergeblich. Elsa hatte sehr gestaunt über ihre Mutter, die in den vergangenen Jahren so vieles unbewegt hingenommen hatte. Und dann dieser Aufstand wegen eines halb zerstörten Hauses. Was machte es schon, wo sie wohnten, nach allem, was passiert war? Ihr jedenfalls war es gleichgültig gewesen. Kurz nach Weihnachten ’45 wurden sie mehr oder weniger gewaltsamevakuiert. Das Haus wurde abgerissen, und Vicky kam nie mehr auch nur in die Nähe von Lichterfelde.
    Bis in die Knochen friert sie jetzt, als ob in den Adern kaltes Blut stockt. Sie sollte sich auch die Decken ihrer Brüder holen. Doch dazu fehlt ihr die Kraft. Auch in der zerbombten Villa hatten sie ständig gefroren. Das bisschen Wärme, für das die Kohlen reichten, zog durch die Löcher in den Wänden gleich wieder hinaus. Durch die Ritzen im Dach pfiff der Wind und trug Regen und Schnee herein. Wie an dem Weihnachtsabend, als Bernhard vor der Tür stand. Mit seinen paar Habseligkeiten in einem geflickten Rucksack, die er stundenlang durch die Stadt geschleppt hatte, in einem umgenähten Uniformmantel, sah er zerlumpt und verwirrt aus wie einer der jungen Soldaten von der Front, die noch immer in Berlin eintrafen. Schweigend musterte er Elsa von Kopf bis Fuß. »Du bist ja noch mehr gewachsen!«, rief er mit seiner neuen tiefen Stimme. »Und ganz heil geblieben!« Dabei sah er so erleichtert aus, dass Elsa ihm um den Hals fiel und einen Kuss auf die Wange drückte. Bernhard lief von den Haarwurzeln bis zum Hemdkragen rot an, bevor er sie von sich schob.
    Der Baum hatte genadelt, daran erinnert sie sich jetzt, eine Nadelspur führte zu ihrem Haus und ihrer Wohnungstür. Bernhard, Klaus und Werner trugen einen Tannenbaum durch die Tür. Es war das erste Mal seit dem Tod des Vaters, dass Klaus mit leuchtenden Augen bei der Sache war, als er mit Bernhard den Baum in der Wohnstube aufstellte. Elsa hatte Bernhard aus den Augenwinkeln beobachtet. Wie er die jüngeren Brüder dirigierte, mit kräftigen Armen den Baum aufrichtete – es war ein anderer Bernhard als der unfreiwillige Hitlerjunge, den sie zuletzt gesehen hatte. In ihrem Jonass, als man da nichts mehr kaufen und bestaunen konnte, sondern von dort aus die Jugend des Reiches führte.
    Elsa schließt die Augen. Die Lider fühlen sich schwer an, dieGedanken bewegen sich zäh. Dann wieder erscheint ein Bild so klar, als ob ein Scheinwerfer darauf gerichtet wäre, während alles andere im Dunkeln versinkt. Ein Bild, das man jetzt gar nicht sehen will. Elsie, die blass und dünn in der Tür steht. Ein halbes Jahr hatten sie einander nicht gesehen vor diesem Weihnachtsabend. Vicky schossen Tränen in die Augen, als sie der Freundin mit der Hand über das Haar strich. Elsie stand steif in ihrem Mantel. Elsa gab ihr die Hand und konnte ihr nicht in die Augen sehen. Niemand rührte sich. »Bernhard, hol den Wein«, sagte Vicky in die Stille, »du bist heute Abend der Herr des Hauses.« Linkisch goss Bernhard den beiden Frauen

Weitere Kostenlose Bücher