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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Wein in die Gläser.
    Zum Abendessen saßen sie in dem Raum, der noch alle vier Wände besaß und den sie leidlich warm bekommen hatten, um eine improvisierte Tafel. Ein Bettlaken diente als Tischdecke, Kerzen brannten, es gab Würstchen und Kartoffelsalat, genug zum Sattwerden, ein Festessen. Jede Familie hatte auf die Lebensmittelkarte zu Weihnachten eine Sonderzuteilung bekommen, für die Kinder bis zwölf gab es Schokolade. Elsa maulte, als Klaus und Werner sich nach dem Essen über ihre Schokokugeln hermachten. »Ach was, ihr beiden seid jetzt erwachsen.« Vicky stand vom Tisch auf und holte eine zweite Flasche Wein. Sie goss Bernhard und Elsa die Gläser voll. »Lass das!«, sagte Elsie, die schweigend am Tisch gesessen hatte, mit so scharfer Stimme, dass Vickys Hand zitterte und ein Schwall Rotwein sich auf Laken und Tischplatte ergoss. »Der schöne Tisch!«, jammerte Vicky. »Eiche! Das geht nie wieder raus!«
    »Wenn’s weiter nichts ist.« Elsie sah sich um. »Hauptsache, deine Möbel bleiben heil. Der ganze Krempel, auf dem du all die Jahre hockst, während andere … andere …« Ein schriller Laut entfuhr ihr, sie schlug die Hände vor den Mund. Die langen Ärmel ihrer Bluse rutschten herunter. Elsa starrte auf die Narben an Elsies Handgelenken. »Elsie, bitte!« Vicky sah die Freundin flehend an. »Es sind doch nicht meine Sachen. Du weißt, wemich sie zurückgeben will.« Dann begann sie zu weinen. Bernhard und Elsa tauschten fragende Blicke. Beide griffen gleichzeitig nach ihren Gläsern und leerten sie, während niemand hinsah, mit einem Zug.
    Elsas Hände und Füße sind eiskalt, nur ihr Kopf fühlt sich warm an. Der Hals kratzt beim Schlucken, als ob man ihn innen mit einer Drahtbürste aufgeraut hätte. Jetzt ein heißer Tee. Aber der Weg zur Küche scheint so weit. Und dann fällt ihr ein, dass es gar keinen Strom gibt. Vermutlich auch keinen Tee.
    Mitten in der Nacht war Elsa damals aufgewacht. Obwohl sie an dem Abend so viel gegessen hatte wie lange nicht, fühlte sie sich hungrig. Es hatten noch Reste auf dem Tisch gestanden, nach einer hastigen Bescherung waren alle bedrückt zu Bett gegangen. Sie schlich in die Stube, in der es nach Weihnachten roch. Essensdüfte und Kerzenwachs und Wein … Auf dem Sofa lag Bernhard und schlief. Sie tastete im Dunkeln auf dem Tisch, fand die Schüssel und kratzte mit dem Löffel darin. »Erwischt!«, kam eine Stimme vom Sofa. Eine heisere, tiefe, ungewohnte Stimme. Elsa fuhr zusammen. »Selber erwischt!«, sagte sie. »Vorhin war noch Kartoffelsalat drin, das schwör ich. Warum schläfst du nicht?«
    Sie sprachen im Halbdunkel miteinander, Bernhard auf dem Sofa, die Decke unters Kinn gezogen, Elsa hinter dem Tisch. Nach einer Weile war es ganz selbstverständlich, sich neben den Freund aufs Sofa zu setzen. »Ich vermisse meinen Vater«, hatte Bernhard gesagt und so traurig geklungen, dass Elsa ihm eine Hand auf den Arm legte. Er war zusammengezuckt, und sie nahm die Hand wieder fort und flüsterte: »Und ich vermisse meine Mutter.« Bernhard sah sie verwundert an. Sie schaute an ihm vorbei und sprach in die Luft. »Irgendwie ist sie fort, seit wir in dieses Haus gezogen sind. Wie ein Geist. Sie verlegt etwas, sucht es, verliert es wieder. Schaut hinter Bilder und Schränke. Ich glaub, sie weiß selbst nicht, wonach sie sucht.« Nach einerWeile fragte Bernhard: »Wem gehören denn die Sachen, wenn nicht euch?« Elsa zuckte mit den Achseln. Beide schwiegen. Endlich wagte sie es. Ihn nach ihr zu fragen. Lange hatte sie nachgedacht, wie sie es anstellen sollte, sie wusste ja nicht, ob er immer noch daran glaubte. An Martha. An ihr Irgendwohin-Fortgehen, ihr Irgendwann-Zurückkehren. So schwer kamen ihr die Worte, dass ihre Zunge am Gaumen klebte. »Bist du noch mal dort gewesen? In Gollwitz. Auf dem Friedhof?« Bernhard schwieg. Schwieg so lange, bis sie dachte, er würde nie wieder mit ihr sprechen. Dann sagte er, ohne sie anzusehen: »Wenn ich noch mal hinfahre … Kommst du mit?« Und sie hatte geantwortet: »Jederzeit.«
    Da hatte Bernhard sie angesehen und die Decke angehoben. Erst neben ihm, mit der Decke über den Beinen, wurde ihr bewusst, wie sehr sie gefroren hatte in ihrem dünnen Nachthemd. Es war schön, Bernhards Wärme an ihrer Seite zu spüren. Aber sie passte auf, dass ihre nackten Beine nicht seine Schlafanzughose berührten. Und schlang die Arme um ihre Brust, diese neuen Rundungen unter dem Nachthemd. »Sag mal, fühlst du das auch?«,

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