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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Hämmern an die Haustür folgte, wird ihr schwarz vor Augen, und die Tür fällt ins Schloss. »Der deutsche Mann hat fünf Jahre gekämpft, die deutsche Frau fünf Minuten.« Ihre Finger zittern, das Zündholz – das vorletzte – bricht ab. Reiß dich zusammen. Noch ein Versuch. Auch der Kopf des letzten Hölzchens bricht und fällt in die Pfütze im Hauseingang.
    »Aber, aber, wer wird denn weinen?« Der Mann tritt näher. »Nun, wo wir alle am Leben bleiben und Rosinen vom Himmel regnen.« Elsa hat die Tränen abgewischt, sich umgewandt.
    »Verschwind…« Sie schaut dem Mann ins Gesicht und verstummt. Er trägt eine dunkle Brille. Eine Sonnenbrille bei der Dunkelheit! Vielleicht ist es ja ein Irrer, ein Mörder. Aber sein Lächeln ist so liebenswürdig und auch die Art, wie er ihr denSchirm entgegenhält. Ein altmodischer schwarzer Schirm an einem langen Spazierstock. »Haben Sie Feuer?«
    Der Fremde schüttelt den Kopf. »Bedaure, damit kann ich nicht dienen. Aber ich biete Ihnen Schutz und Schirm für den weiteren Weg.«
    Inzwischen hat es in Strömen zu gießen begonnen. Elsa steckt die Selbstgedrehte wieder ein.
    »Na gut.« Sie hakt sich bei ihm unter, schweigend gehen sie die dunkle Straße entlang, während der Regen auf den großen Schirm prasselt, der sie beide trocken hält. Vorsichtig setzt er Fuß vor Fuß und zieht den linken ein wenig nach. Sicher vom Krieg, denkt sie.
    »Sie sind wohl noch sehr jung?«, fragt er mitten ins Schweigen. Elsa sieht ihn erstaunt an. »Weil Sie so weinen können. Ich habe Sie gehört und dachte: Da ist ein junger, glücklicher Mensch, der über sein Schicksal weinen kann. Vielleicht tröstet es mich, ein wenig in seiner Gesellschaft zu sein.«
    »Tröstet Sie?« Auf einmal wird Elsa klar, dass der Mann blind ist. »Verstehe«, sagt sie. »Verstehe.«
    Dann fallen sie wieder in ihr Schweigen. Langsam schlurft der Mann vorwärts. Und die Gedanken rennen währenddessen vor und zurück wie ein Hund. Zu den Nachmittagen nach der Schule, den Stunden, in denen sie ihrer Mutter half beim Trümmerräumen. Vicky war zwangsverpflichtet als Frau eines Nazis, »Anhangfrauen« nannte man solche wie sie. Sie selbst war ebenfalls der Anhang eines Nazis, wenn auch nur die adoptierte Tochter eines toten Nazis. Als Trümmerfrau stand Vicky zwar eine höhere Lebensmittelkarte zu als die »Sterbekarte«, aber auch mit Karte II und III wurde oft genug gestorben, vor allem im Hungerwinter ’46. »Nur nicht wieder so ein Winter wie ’46!«, haben alle gesagt, als sich abzeichnete, dass die Blockade über den Winter andauern würde. Zum Glück ist dieser Winter bisher mild verlaufen.
    »Haben Sie Feuer?«, fragt Elsa, als ihnen in der verlassenen Straße endlich wieder ein Mensch entgegenkommt.
    »Nein«, sagt die triefend nasse Gestalt und schaut suchend um sich, »aber wissen Sie, wo es Kohlen gibt? Es muss doch irgendwo Kohlen geben.«
    Auch jetzt bekam man als Luftbrückenarbeiterin Extrakalorien, damit man die Schufterei durchhielt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer isst, soll auch arbeiten. Für die Flughafenarbeiter hieß das pro Schicht einen Becher Kaffee und eine Mahlzeit von siebenhundert Kalorien. Manchmal bestand so eine Mahlzeit sogar aus richtigem Gemüse, mit Blättern, Wurzeln oder Stängeln, und echten Kartoffeln. Nicht die getrockneten, harten Würfelchen, die es auf Karte gab. Trotzdem hätte Elsa statt der Mahlzeit lieber eine Karte bekommen, die sie gegen Zigaretten tauschen konnte. Die Zigaretten brachten nicht nur den Magen zum Schweigen, sondern stillten noch einen anderen Hunger. Was denn für einen anderen Hunger? Man denkt seltsame Dinge, wenn man zu müde zum Denken ist. Zu hungrig zum Denken.
    Es ist anstrengend, so langsam zu gehen. Und was macht es schon, wenn sie nass wird. Elsa bleibt stehen und streckt dem Fremden die Hand hin. »Danke für den Schirm.«
    Erst nach kurzem Zögern ergreift er die Hand, knapp daneben zuerst, dann mit festem Druck. »Na dann – auf Wiedersehen«, sagt der Mann und lächelt dazu. Er klappt den Schirm zusammen, lässt sich nass regnen und benutzt ihn als Krückstock.
    Zu Hause: der Gestank nach Kohl und Branda. Also sind mal wieder die Kohlen ausgegangen, denkt Elsa in der dämmrigen Diele, denn nur dann war dieser stinkende Ersatz aus Sägespänen und Teer an der Reihe. Kein Strom, kein Licht, kein Radio. Alles dunkel und still, alles ganz normal. Vicky sitzt sicher in der Küche und starrt an die Wände. Nähen

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