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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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ein mürrisches Gesicht, ob der Heiligen Nacht und des christlichen Geschwafels, das in diesem Lied steckt. Aber nun ist sie eben mal Minderheit und muss sich damit arrangieren, wo sie ja sonst jetzt immer zur Mehrheit gehört und zur Macht.
    Bernhard will jetzt keine Geschenke. Er verspürt den großen Wunsch, auf der Stelle Elsas Brief zu lesen. Und hat das Gefühl, Verrat an Karla zu begehen, obwohl doch gar nichts mehr ist zwischen ihm und Elsa und auch nie wieder etwas sein wird. Ja, das eine Mal, im flirrenden Staub der Bibliothek, ist etwas gewesen, und als es vorbei war, hielten sie sich eine Weile aneinander fest, vielleicht nur, um dem anderen nicht in die Augen zu sehen, vielleicht auch, weil es so schön war, dass es nicht falsch sein konnte. Als sie einander die Gesichter wieder zuwandten, sahen sie beinahe aus wie zuvor.
    Für einen kurzen Moment, vor dem mit Lametta behängten Weihnachtsbaum, im Dunstkreis von Braten und Plätzchen, Friede, Freude und Familie, sucht Bernhard nach einer Antwort auf die eine große Frage, die Elsa stellen könnte: »Willst du mit mir leben?« Zum Glück ist das alles nur Theorie.
    Nach der Bescherung und bevor der Festtagsschmaus für die Großen auf den Tisch kommt, bringt Karla die Kleine ins Bett. Alle wünschen sich besten Appetit, essen andächtig, was gekocht und gebraten wurde, und trinken reichlich vom Wein, den Charlotte gebracht hat.
    Mitten in das Geplauder hinein erhebt Bernhard die Stimme. »Ich möchte euch etwas sagen.« Alle Gespräche verstummen. Und da Bernhard doch nichts sagt, ist es am Tisch totenstill. Er betrachtet den Rotweinfleck in der Mitte des Tischtuchs, dreht das Glas in der Hand. Setzt es ab und schaut in die Runde. Schaut jedem Einzelnen der Reihe nach ins Gesicht. »Ich werde nicht einwilligen, dass ihr Martha für tot erklärt.«
    Später sitzen Bernhard und Wilhelm im Wohnzimmer, leeren schweigend ihre Gläser und haben, wie Bernhard bemerkt, schon ordentlich einen in der Krone. Er hebt das Glas, klopft auf seinen nagelneuen Pullover und sagt, den würden ihm die Genossen in der Redaktion nicht verzeihen. Der rieche ja schon von Weitem nach Westen, und dafür müsse er sich bestimmt in der Parteiversammlung verantworten.
    »Red keinen Quatsch«, sagt Wilhelm und ist sich doch nicht sicher. Der Blödsinn kennt ja bekanntlich keine Grenzen, und auch die Genossen sind nicht dagegen gefeit. Im Gegenteil, denkt er und behält das lieber für sich. Auch Wilhelm spricht bereits ein wenig gedehnt, doch er lässt nicht locker mit der Frage, ob es dem Sohn in der Redaktion denn nun gefällt. Oder etwa nicht.
    Bernhard rafft sich auf und versucht noch einmal, die Gedanken zu ordnen. »Die haben da ganz schön aufgeräumt«, sagt er, und so etwas muss man nicht näher erklären. Wilhelm weiß, wovon sein Sohn redet. Schon oft haben sie über den neuen Chefredakteur gesprochen und den vorherigen, dem Bernhard noch immer ein wenig nachtrauert. »Man muss sich halt seins suchen. So ’ne Art Nische, wie meine Geschichtsdinger«, sagt Bernhard und schreckt ein bisschen zurück. Jetzt schludert er wirklich mit der Sprache, was ihm nur passiert, wenn der Alkohol zu Kopf steigt. »Da kann ich im Institut tagelang forschen und schreiben und muss nicht, wie die Jungs von der Abteilung Parteileben, loslaufen und die Welt erfinden.«
    Wilhelm widerspricht. Auch wenn ihm das Neue Deutschland oft auf die Nerven geht, der Lüge dürfe man wohl das ND nicht bezichtigen. Oder ob er das etwa gemeint habe und glaube?
    Bernhard gießt sich und dem Vater noch einmal die Gläser voll.
    Kurz vor Mitternacht wird der Heilige Abend für beendet erklärt. Marie bekommt auf dem Sofa ein Bett gebaut, Wilhelmund Charlotte machen sich auf den Heimweg, und Bernhard begleitet die beiden ein Stück, um frische Luft zu schnappen. Karla liegt allein im Bett und kann nicht einschlafen, weil sie an Elsa denken muss und an Bernhard, dem die Freundin vielleicht doch immer noch wichtig ist. Aber nicht wichtiger als ich und Luise, flüstert sie ins Kissen und schließt die Augen.
    An der Ecke Stalinallee drückt Bernhard den Vater und küsst die Schwester auf die Wange, bevor er sich umdreht und auf den Heimweg macht. Unter der ersten Laterne, die noch Licht spendet, holt er den Brief aus der Hosentasche, reißt ihn auf und liest.
    »Bernhard. Ich finde es traurig, dass wir beide so nah beieinander leben und uns doch so selten sehen. Meinst du, das kann wieder anders werden? Du fehlst

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