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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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den Schlüssel abgeben würde, wäre das wohl möglich. Zumal, wie Bernhard eilig versicherte, die Kollegin nur einen Überblick über die Bestände bekommen solle und einen kleinen Exkurs, wie der Katalog aufgebaut sei.
    So blieben sie allein zurück, er und Elsa, in der plötzlich stillen und leeren Bibliothek, die einen Kokon aus Büchern und Zeitungsbänden um sie baute. In diesem Augenblick wurde auch Elsa ganz still. Betrachtete die Tische mit den Karteikästen und besonders lange eine Schreibmaschine mit kyrillischen Buchstaben. Ging an den Regalen entlang, als interessierte sie sich nun wirklich für die Schriften der kommunistischen Arbeiterführer. Fuhr mit dem Zeigefinger über Buchrücken, pustete hier und da ein bisschen Staub vom Finger, um die Reise sogleich wiederaufzunehmen, bewegte sich so langsam durch den Raum, als wäre es nun an ihr, die Topografie der großen Bibliothek zu erklären. Und er folgte ihr still auf ihrem Weg, blieb immer zwei, drei Schritte hinter Elsa, schaute auf ihren Nacken, auf die runden, leicht gebräunten Schultern, den geraden Rücken und den Po, der sich unter dem Kleiderstoff abzeichnete. Ihm wurde von Sekunde zu Sekunde wärmer, bis aus der Wärme Hitze wurde, wie er meinte, die sich im ganzen Körper ausbreitete, als wollte sie ihn weich kochen bis in die Zehenspitzen.
    »Möchtest du den Katalograum sehen?«, fragte er, und Elsa nahm den Zeigefinger von den Buchreihen, um mit ihm eine gerade Linie vom Kinn hinab in den Ausschnitt des Kleides zu malen. Im engen Katalograum waren die Jalousien heruntergelassen, die Abendsonne warf goldene Streifen an die Wand und auf den Tisch, der davor stand. Auch Elsa war golden gestreift, als sie sich an die Wand lehnte, und der Tisch wackelte, als sie sich daraufsetzte, sodass sie einen kleinen Juchzer ausstieß, der den Ausschlag gab. Was sollte sie jetzt und hier davon abhalten, sich aufeinanderzustürzen und aneinander festzuhalten, egal wie dieDinge draußen lagen und das Leben sich für beide sortiert und eingerichtet hatte.
    Wilhelm Glaser klappt mit lautem Knall den Zeitungsband zu und steht vom Stuhl auf.
    »Da wollen wir mal«, sagt er zu Bernhard, und der nickt, ohne den Vater anzuschauen. Nun ist ihm doch die Erinnerung gekommen, und das am Weihnachtsabend, wo sich alles um die richtige Familie drehen sollte und nicht um halbschattige Geschichten, von denen keiner etwas wissen darf. Etwas verlegen, als hätten beide Männer, der Vater und der Sohn, von verbotenen Früchten genascht, machen sie sich auf den Weg nach draußen in die Kälte.
    »Kann sein«, brummelt Wilhelm, »dass ich mal ein bisschen in Vicky verliebt war. Nur aus der Ferne natürlich.« Er schielt bei diesem Satz zum Sohn, dem eine seltsame Röte in die Wangen steigt, und der nickt, als verstehe er alles und nichts. Den Weg nach Hause legen sie schweigend zurück. Wie immer ist er länger als der Hinweg, ein Phänomen, über das Bernhard schon so oft nachgedacht und für das er keine Lösung gefunden hat. Wieso es immer schneller geht, wenn man irgendwohin will, und länger dauert, wenn man irgendwoher kommt.
    Karla wartet schon auf die Männer und läuft zwischen Küche und Weihnachtsbaum hin und her. Bernhard geht zu Luise, die in der Küche auf dem Fußboden mit einem hölzernen Kochlöffel, einem Geschirrtuch und einem angeschlagenen Teller spielt.
    »Was machst du da?«, fragt er Luise.
    »Duppe«, sagt Luise und lächelt verklärt.
    »Sie kocht eine Suppe«, übersetzt Karla.
    Dabei versteht Bernhard seine Tochter sehr gut, auch wenn er nicht so viel Zeit zu Hause verbringen kann wie Karla, die stundenweise in einer Schule ganz in der Nähe unterrichtet. So lange, bis Luise groß genug für ganze Kindergartentage ist. Zuerstwollte Karla im Veteranenklub in der Bötzowstraße anfangen. Den hatten sie ’57 eröffnet, und Karla gefielen die Räume und die alten Kämpfer und Kämpferinnen dort, die viel zu erzählen hatten. Aber sie waren auch krank und die meisten allein. »Da wirst du dich traurig arbeiten«, hatte Bernhard gesagt, und so wäre es auch gekommen. Er kennt Karla, die macht sich aus allen Geschichten ein eigenes Schicksal und liegt nachts wach und weint um fremdes Leid.
    Bernhard legt die Hand auf Luises Stirn. Die ist noch immer warm, aber nicht heißer geworden. Und dann klopft es an der Tür, und Weihnachten fängt endgültig an. Marie ist bepackt wie ein Lastesel, lässt alles fallen und umarmt Karla, Luise und ihn auf einmal.

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